Al-Insān al-Kāmil – Der vollkommene Mensch 2 - 3

Da der vollkommene Mensch ganz und gar dem Wirken der Gottesliebe und den Kräften seines leidenschaftlichen Verlangens nach Allāh unterliegt, bleibt sein Herz vor den Anfechtungen und Versuchungen des Egos bewahrt. Er ist ein von göttlichem Licht durchdrungener Anziehungspunkt, zu dem die Menschen sich unweigerlich voller Respekt und Liebe hingezogen fühlen. Diese Formen vergänglicher Zuneigung und Verbundenheit verleiten ihn jedoch keinesfalls zu solch unwürdigen und niederen Empfindungen wie Eitelkeit, Hochmut oder Stolz. Der vollkommene Mensch ist ständig in der Gegenwart Allāhs, des Allmächtigen, auch wenn er sich mitten unter den Menschen bewegt. Während er dem göttlichen Befehl Allāhs die höchste Achtung zollt, ist er gleichzeitig Allāhs Geschöpfen mitfühlend und gütig zugeneigt, allerdings ohne dabei den Unterdrückern oder Übeltätern unter den Dienern Allāhs Freundlichkeit oder gar Sympathie entgegenzubringen.[1] Dennoch empfindet er in seiner Barmherzigkeit ihren Zustand als schmerzlich, fühlt Mitleid mit ihnen und bittet Allāh um Rechtleitung für sie.

Geld und Gut, sowie alle anderen weltlichen Besitztümer, braucht er nur für den einen Zweck, sie als Spenden an die Armen und Bedürftigen zu verteilen.

Der vollkommene Mensch widmet sich ganz der Gotteserkenntnis und dem Erreichen der Gottesnähe. Tatsächlich ist er ein besonderer Diener Allāhs, denn Kummer und Leid dieses Universums können ihm nichts anhaben, weil er die Welt des Diesseits aus dem Blickwinkel des Gotteswortes {Alles was auf ihr (der Erde) ist, wird vergehen} (55:26) betrachtet. Er ist, auf der Stufe fassungslosen Erstaunens, in der Gegenwart seines ewig existierenden allmächtigen Herrn.

Das ausschließliche Ziel und Gegenstand allen Strebens des vollkommenen Menschen ist das Wohlgefallen Allāhs, des Allmächtigen. Solange er sich nur in diese Richtung bewegt, ist ihm köstliche oder geschmacklose Kost ein und dasselbe. Ebenso gibt es für ihn keinen Unterschied mehr zwischen wenig und viel, kalt oder heiß, Reichtum und Armut, denn all diese Dinge sind relativ.

Der vollkommene Mensch gleicht äußerlich einem besitzlosen Fremdling. In der inneren Welt des Herzens jedoch bekleidet er in derart prunkvollen Palästen, auf prächtig geschmückten Thronsesseln, die Stellung eines Sultans, dass die gesamte diesseitige Welt im Vergleich dazu nicht mehr als ein Sandkastenspiel ist. Dementsprechend begehrt er von den Menschen oder den Dingen dieser Welt nichts mehr von dem, was das menschliche Ego gewöhnlich gerne hätte.

Die Werke eines vollkommenen Menschen sind geprägt von Ausgeglichenheit und Ausgewogenheit. Seine Gottesdienste verrichtet er zur rechten Zeit makellos und in formvollendeter Art und Weise, so wie der Gesandte Allāhs – Segen und Friede seien auf ihm – es beschrieben hat:

Bei Allāh, ich bin derjenige unter euch, der Allāh, den Erhabenen, am meisten fürchtet und Ihm die größte Ehrerbietung entgegenbringt. Den­noch faste ich manch­mal und faste zuweilen nicht; manchmal verrichte ich Gebete und manchmal ruhe ich mich aus; und ich lebe in der Ehe mit Frauen.“

Aus diesen Worten lässt sich deutlich ablesen, dass der Gesandte Allāhs – Segen und Friede seien auf ihm – weder ununterbrochenes Fasten, noch das Verbringen der ganzen Nacht im Gebet ohne zu schlafen, noch das ehelose Leben der Mönche praktiziert oder empfohlen hat. Auf der anderen Seite hat er jedoch keinesfalls einen Lebenswandel ohne die Disziplin des Fastens oder in Achtlosigkeit, voller Langschläferei und niederer egoistischer Gelüste, gutgeheißen. Daraus folgt, dass derartige fromme Handlungen und Werke weder vernachlässigt noch maßlos übertrieben werden sollten.

Der Mensch schuldet seinem Herrn gewisse Rechte, wie Anbetung und Dankbarkeit; gleichzeitig schuldet er auch seinen Angehörigen und sich selbst bestimmte Rechte. Der vollkommene Mensch lebt in einem Zustand der Ausgeglichenheit zwischen all diesen Aufgaben und Verpflichtungen.

Der vollkommene Mensch besitzt ein sanftmütiges Naturell, er hält stets sein Versprechen, bricht nie sein Wort und würde niemals einem anderem Menschen um seines persönlichen Vorteils willen Schaden zufügen. Er erfüllt Allāhs Vorrechte auf Seine Dienerschaft und verhält sich gleichzeitig seinen Mitmenschen gegenüber gerecht.

Selbst, wenn ihm jemand ein Leid zufügt, empfindet er keine Bedrängnis. Wenn es sich bei demjenigen um einen Bedürftigen handelt, dem er Gutes zu tun pflegte, hört er deswegen nicht auf, ihm im Rahmen seiner Möglichkeiten beizustehen. Da er mit den ihm von Allāh verliehenen höchsten Charaktereigenschaften ausgestattet ist und nur nach dem Wohlgefallen seines Schöpfers strebt, entsprechen all seine Handlungen dem heiligen Qur’ān und der prophetischen Sunna; und Allāh, der All-Erhabene, hört nicht auf, all Seine Geschöpfe in dieser Welt zu versorgen – selbst jene unwissenden Achtlosen unter den Menschen, die Ihm ungehorsam sind.

Der ehrwürdige Abū Bakr – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – pflegte einem Mann namens Mistah mit Spenden zu helfen. Als er jedoch erfuhr, dass Mistah zu jenen zählte, die an der Verleumdungskampagne [ifk] gegen seine Tochter ‘Ā’ischa, die Ehefrau des Propheten – Allāh segne ihn und seine Familie und schenke ihm und ihnen Frieden –, beteiligt gewesen war, schwor er, ihm und seiner Familie nie wieder zu helfen.

Nachdem die Unterstützung Abū Bakrs – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – eine Weile ausgeblieben war, ging es Mistah und seiner Familie sehr schlecht. In dieser Situation offenbarte Allāh der Erhabene, dass Seinen Dienern trotz ihrer Übeltaten das Mitgefühl und die Barmherzigkeit nicht entzogen werden dürfe, indem man ihnen die dringend nötige Unterstützung verweigert:

{Und diejenigen, die begünstigt sind und Vermögen besitzen, sollen nicht schwören, den Verwandten, den Bedürftigen und denen, die auf dem Weg Allāhs ausgewandert sind, nichts zukommen zu lassen. Sie sollen ver­zei­hen und Nachsicht üben. Liebt ihr es selbst nicht auch, wenn Allāh euch vergibt? Und Allāh ist verzeihend und barmherzig.} (24:22)

{Und nehmt bei euren Schwüren nicht Allāh als Hinderungsgrund, Fröm­mig­keit zu üben, gottesfürchtig zu sein und Frieden unter den Menschen zu stiften. Und Allāh ist allhörend und allwissend.} (2:224)

Nachdem diese Offenbarungen herabgesandt worden waren, sagte Abū Bakr – möge Allāh mit ihm zufrieden sein: „Natürlich liebe auch ich es, wenn Allāh mir verzeiht!“ Danach entrichtete er eine Wiedergutmachung dafür, seinen Schwur zu brechen, und begann erneut, Gutes zu tun, indem er denjenigen, der seine tugendhafte Tochter ‘Ā’ischa, die Mutter der Gläubigen, die reine Ehefrau des Stolzes des Universums – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – mit übler Nachrede verleumdet hatte, mit großzügigen Spenden unterstützte. Ein solches Verhalten ist in der Tat beispielhaft; und die überragenden Verdienste und die Vollkommenheit Abū Bakrs – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – sind zweifelsohne einzigartig.

 

[1] Diese Verbindung von Gehorsam gegenüber Allāh und mitfühlender Barmherzigkeit für Seine Geschöpfe wird als Tā‘zīm li-amr Allāh wa schaukat li-khalq Allāh bezeichnet.