Geht es nicht ohne Tasawwuf?

Dieses Kapitel enthält ein im August 2002 in der Zeitschrift Altınoluk veröffentlichtes Interview mit dem Autor anlässlich des Erscheinens seines Werkes İmandan İhsana Tasavvuf [Vom Glauben zur Vorzüglichkeit: Tasawwuf].

Altınoluk: In Ihrem Buch İmandan İhsana Tasavvuf vertreten Sie die An­sicht, dass die Methoden des Tasawwuf eine entscheidende Rolle bei der Einladung zum Islam, sowie auf dem Weg zur Vervollkommnung der menschlichen Seele und ihrer Rechtleitung hin zur Wahrheit spielen? Worin liegen Ihrer Ansicht nach die Geheimnisse dieses Erfolgs?

Osman Nuri Topbaş: Tasawwuf ist eine bestimmte Methode, Menschen in ihrer islamischen Lebenspraxis zu erziehen. Der äußere Aspekt des Islam, das göttliche Gesetz [scharī‘a] benutzt vorwiegend das Konzept von Belohnung und Strafe, um die Menschen dahin zu bringen, ein tugendhaftes Leben zu führen. Das heißt, innerhalb der Scharī‘a sind die Hoffnung auf das Paradies und die Furcht vor dem Höllenfeuer die grundlegenden Konzepte, die das Leben eines Muslims bestimmen. Tasawwuf, der innere Aspekt des Islam, hingegen, wendet praktizierte Liebe und Barmherzigkeit als ihre wichtigsten – über die Belohnung im Paradies und die Strafe im Höllenfeuer hin­ausgehenden – methodischen Ansätze an. Heutzutage leiden die Menschen unter ihren Sünden und irren außerhalb des schützenden Schilds der Religion umher. Dies ist eine direkte Folge ihrer Versklavung durch ihr Ego [nafs]. Die Rettung für diese Sünder erreicht sie am ehesten auf dem Weg der Barmherzigkeit und Liebe. Deshalb kommt den Methoden des Tasawwuf eine besondere Bedeutung zu, denn die Sünder brauchen jene sanfte Hand, die ihnen der Sufi-Weg reicht. Nicht nur bei uns, sondern auch in der westlichen Welt hat sich gezeigt, dass die Methoden der Sufis viele Menschen zum Islam bringen. Sie bieten jenen, die – gefangen in den Klauen ihres Egos oder betört von Theorien, die allein auf menschlicher Logik beruhen – unterzugehen drohen, den Islam wie einen neues Leben spendenden Atemzug dar.

Wir sollten nicht mit Hass und Rachegefühlen auf Sünder zugehen, sondern ihnen durch Barmherzigkeit und Mitgefühl neue Hoffnung schenken. Ein Sünder ist wie jemand, der im Meer ertrinkt, und es ist unsere Pflicht, diesem Menschen unsere Hände entgegenzustrecken. Ihn zu verfluchen oder zu schelten, ist eine ganz und gar unpassende Methode, um ihn aus seiner schrecklichen Situation zu retten. Der Mensch besitzt – selbst wenn er sich noch so weit von seinem Daseinszweck entfernt haben mag – allein durch die ihm von Natur aus innewohnende, gottgebene Würde seines Menschseins einen hohen Wert und große Ehre. Dabei ließe sich ein Sünder mit dem gesegneten schwarzen Stein der Ka‘ba vergleichen, wenn dieser in den Schmutz gefallen wäre. Keinem Muslim wäre die traurige Situation dieses kostbaren Steines gleichgültig; alle würden sofort herbeieilen, ihn säubern und an den ihm gebührenden Platz zurückbringen, denn er stammt aus dem Paradies und besitzt deshalb in den Augen der Gläubigen einen hohen Wert. Dementsprechend kann uns auch der traurige Anblick eines hilfsbedürftigen Menschen nicht gleichgültig sein; wir sollten uns beeilen, ihm zu helfen – sei es in materieller oder spiritueller Hin­sicht.

Allāh, der Allmächtige, hat uns mitgeteilt, dass Er dem Menschen, als Er ihn erschuf, von Seinem Geist eingehaucht hat. Aus diesem Grunde besitzt jeder Mensch göttliche Geheimnisse. Ganz gleich, wie viele Sünden er begehen mag, besitzt er dennoch einen ihm von Geburt an innewohnenden Wert, der durch nichts zerstört werden kann. Wie Meister Jalāl al-Dīn Rūmī sagt, gleicht der Mensch klarem, reinem Wasser, durch das man hindurchschauen kann. Wenn dieses Wasser jedoch verschmutzt ist, können wir nicht mehr hindurchsehen. Um das göttliche Licht sehen zu können, ist es notwendig, dieses Wasser von seinen Verunreinigungen zu befreien. Tasawwuf ist eine Methode, die Seele des Menschen von den Begierden des Fleisches zu befreien. Dabei schließen die Sufis nie­manden von diesem Prozess der Läuterung aus; auch dann nicht, wenn ein Mensch tief in Sünde versunken ist. Sie bieten jedem, der bereit ist, diese anzunehmen, eine Chance. Im Leben des Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – finden sich viele Beispiele für seinen barmherzigen Umgang mit allen möglichen Arten von Sündern.

So enthielt der Prophet – Segen und Friede seien auf ihm – selbst Wahschī, obwohl dieser seinen sehr geliebten Onkel Hamza – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – getötet hatte, nicht seine Barmherzigkeit vor. Da er selbst wegen dieses Ereignisses sehr bedrückt war, sandte der Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – einen Boten zu ihm, um ihn zur Annahme des Islam einzuladen. Daraufhin sandte Wahschī die folgende Antwort: „O Muhammad, wie kannst Du mich zum Islam einladen, wenn das Urteil Allāhs lautet: {[…] und jene, die neben Allāh keine andere Gottheit anrufen und keinen Menschen töten, den Allāh für unantastbar erklärt hat – es sei denn bei vorliegender Berechtigung – und die keine Unzucht begehen. Wer dies jedoch tut, wird die Folge der Sünde erleiden: die Strafe wird ihm am Tag der Auferstehung verdoppelt werden und er wird darin in Schmach ewig weilen.} (25:68-69) Ich habe alle in diesem Vers erwähnten Sünden begangen, wo soll es für mich noch einen Weg zur Rettung geben?

Doch Allāh, der Erhabene, offenbarte Seine Worte: {Sprich: „O meine Diener, die ihr euch gegen euch selbst vergangen habt, verzweifelt nicht an der Barmherzigkeit Allāhs; wahrlich, Allāh vergibt die Sünden allesamt – fürwahr, Er ist der All-Verzeihende, der All-Barmherzige.“} (39:53) Als Wahschī diesen Vers hörte, war er sehr glücklich, und sagte: „O mein Herr, wie gewaltig ist Deine Gnade!“ Er bereute aufrichtig all seine Sünden und nahm, gemeinsam mit einigen seiner Gefährten, den Islam an.

Das Licht des Tasawwuf entspringt solchen Beispielen aus dem Leben des Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden –; desjenigen, dem die vollkommensten Manifestationen der göttlichen Eigenschaften und die Ehre, die Offenbarung Allāhs zu empfangen, zuteil wurden. Nach Ansicht der Sufis besitzt der Mensch eine ganz besondere Stellung innerhalb der Schöpfung, da er mit dem Potential erschaffen wurde, Allāhs Stellvertreter auf Erden zu sein. Er ist „der Augapfel“ des Universums, und keine Sünde kann diese Ehrenstellung zunichte machen. Der Tasawwuf betrachtet dies in einer sehr ausgewogenen Art und Weise: Der Sünder wird akzeptiert, doch die Sünde selbst wird niemals toleriert. Wir sollten die Sünde hassen und dem Sünder gegenüber barmherzig sein, um ihn aus dem Abgrund, in den er gestürzt ist, zu retten.

Indem er dies zu verwirklichen trachtet, bietet der Tasawwuf der Menschheit die erfolgreichste Methode an, zum Islam einzuladen. Es liegt in der menschlichen Natur, sich nach jemandem zu sehnen, der einem in Liebe und voller Barmherzigkeit die Hand entgegenstreckt – so wie es dem Weg der großen Sufis, wie zum Beispiel ‘Abd al-Qādir al-Jīlānī, Yūnus Emre, Schāh Bahā’ al-Dīn al-Naqshband, Maulānā Jalāl al-Dīn Rūmī, und vieler anderer berühmter Gottesfreunde – ent­spricht.

Altınoluk: Wie Sie ausgeführt haben, führt Tasawwuf die Menschen von den Stufen der Unreife zu den Stufen der Vollkommenheit. Wenn wir von dieser Prämisse ausgehen, welche Rolle sollte Tasawwuf dann Ihrer An­sicht nach im Leben eines Muslims spielen? Oder, anders gefragt: Geht es nicht ohne Tasawwuf?

Osman Nuri Topbaş: Sie haben eine sehr wichtige Frage gestellt. Ich möchte darauf eingehen, indem ich Ihnen die folgende Geschichte erzähle, die ich von meinem Vater, Musa Efendi, gehört habe:

Wir hatten einen Nachbarn der (vom Christentum) zum Islam übergetreten war. Eines Tages fragte ich ihn, was ihn veranlasst hatte, den Islam anzunehmen. Er antwortete:

„Ich bin wegen unseres Nachbarn Rebī Molla, dessen Grundstück in Acıbadem neben dem unseren lag, und wegen seines vorbildlichen Verhaltens im geschäftlichen Umgang, Muslim geworden. Molla Rebī besaß Kühe und lebte davon, deren Milch zu verkaufen. Eines Tages kam er zu uns nach Hause, überreichte mir eine große Kanne Milch, und sagte: ‚Bitte sehr, das ist eure Milch.‘ Ich wunderte mich und sagte: ‚Wieso? Wir haben bei Ihnen doch gar keine Milch bestellt!‘ Da sagte dieser empfindsame, gütige Mensch: ‚Zu meinem Bedauern musste ich heute feststellen, dass eines meiner Tiere, ohne dass ich es bemerkt hätte, in Ihren Garten hinüber gewandert ist und dort gegrast hat. Deshalb gehört seine Milch Ihnen, und ich werde Ihnen solange dessen Milch bringen, bis dieses Gras gänzlich aus seinen Mägen heraus ist.‘ Ich antwortete: ‚Lieber Nachbar, das ist doch nicht der Rede wert, und das Gras, dass die Kuh gefressen hat, ist vergeben und vergessen! Ich will nichts dafür haben.‘ Doch er bestand darauf, dass die Milch mir zustehe, und hörte nicht auf, mir Milch zu bringen, bis die Kuh das Gras vollkommen verdaut und ausgeschieden hatte. Das edle Benehmen dieses gesegneten Menschen beeindruckte mich so sehr, dass in der Folge der Schleier der Achtlosigkeit [ghafla] von meinen Augen genommen wurde und die Sonne der Rechtleitung für mich aufging. Ich sagte mir: ‚Die Religion eines derart aufrichtigen Menschen muss der rechte Weg sein. Nie­mand kann Zweifel an der Wahrheit einer Religion hegen, die solch gütige, gerechtigkeitsliebende und vollkommene Anhänger hat wie ihn.‘ Also sprach ich das Glaubensbekenntnis [schahāda] und wurde zum Muslim.“

Wie diese Begebenheit und zahllose ähnliche belegen, sind die Sufis und ihre Methoden zur Vervollkommnung des Charakters der Gläubigen wichtige Ursachen für die Ausbreitung des Islam. Dabei wirkt Tasawwuf auf zweierlei Weise: Zum einen, indem er Verhalten und Charakter der Gläubigen vervollkommnet, zum anderen, indem er durch das vorbildliche Benehmen der Sufis zur Verbreitung des Islam beiträgt. Tasawwuf zeigt den Nichtmuslimen das barmherzige Gesicht des Islam und trägt dazu bei, diesen in seiner wahren Form zu repräsentieren. Islam bedeutet sowohl Gesetz als auch Bewusstsein der göttlichen Gegenwart, sowohl Fatwā [Rechtsgutachten] als auch Taqwā [Gottesfurcht]. Die rechtlichen Aspekte des Islam gleichen den Säulen seines Gebäudes, während die Gottesfurcht, welche dem Charakter der Sufis entspricht, den übrigen Ge­bäudeteilen entspricht, die das ganze Gebäude sowohl verschönern als auch in seiner Struktur verstärken. Tasawwuf hilft den Muslimen – zusätzlich zu der Vervollkommnung ihres Charakters – dabei, diese beiden Aspekte des Islam zu vereinen.

Darüber hinaus ermöglicht der Tasawwuf der Menschheit, sowohl den Qur’ān als auch das Dasein zu begreifen, und ihre Stellung und Verantwortung innerhalb des Universums zu erkennen. Mit seinen Prinzipien der Gottesliebe und Gotteserkenntnis ist Tasawwuf für die Gläubigen wie ein zur Himmelfahrt [mi’rāj] des Herzens zu Allāh hin geöffnetes Fenster der Seele. Kurz gesagt, ist der Sufi-Weg zur Erziehung des Herzens und der Seele unerlässlich; das heißt, Tasawwuf ist im Leben eines jeden Muslims, mehr oder weniger, notwendig.

Die Frage „Geht es nicht ohne Tasawwuf?“ gleicht der Frage, ob es denn nicht auch ohne Tafsīr, ohne Hadīth, ohne systematische Theologie [kalām], ohne Rechtswissenschaft [fiqh] oder all die anderen wichtigen islamischen Wissenschaften geht. Den Tasawwuf als einen überfüssigen Bestandteil des Islam zu betrachten, hieße so viel, wie das Streben nach Aufrichtigkeit, Gottesfurcht, Läuterung des Egos, die Reinigung des Herzens und, zu guter Letzt, die Verwirklichung der Stufe der Vorzüglichkeit [ihsān] für unnötig zu erklären! Tasawwuf ist, im Grunde genommen, nichts weiter als ein Begriff, der für die Entfaltung und Verwirklichung all die­ser guten Eigenschaften steht.

Selbst jene, die sich diesen Prinzipien entsprechend verhalten, ohne den all­ge­meinen Oberbegriff zu verwenden, unter den diese fallen, können – ebenso wie jene, die dabei die Terminologie des Tasawwuf ablehnen – getrost zu denen gezählt werden, die Tasawwuf praktizieren. Denn die Namen sind nicht das Entscheidende, solange die entsprechenden Prinzipien in der Lebenspraxis in die Tat umgesetzt werden. Wir können Tasawwuf genauso gut mit Taqwā [Gottesfurcht] oder Zuhd [Welt­entsagung] oder Ihsān [Verwirklichung von Vorzüglichkeit] beschreiben, weil diese Begriffe alle letztendlich auf die gleiche Wirklichkeit hinweisen und demselben Zweck dienen. Im Zentrum all dieser Be­grif­fe steht die Praxis des vollkommensten Meisters und Lehrers der Menschheit, des Propheten Muhammad – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – und seiner edlen Gefährten, die ihre Erziehung durch ihn selbst genossen, und deren erhabene Persönlichkeiten – den Sternen am Sternenhimmel gleich – vom Licht dieser spiri­tu­ellen Charakterbildung erstrahlen.

Auch das Herz bedarf der Erziehung, um inneren Frieden, Glück, Ruhe und Zufriedenheit zu finden. Selbst der Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden –, der mit der göttlichen Offenbarung gesegnet wurde, durchlief eine spezielle Form von Erziehung, bevor ihm das Prophetentum zuteil wurde. Er pflegte sich in eine Höhle im Berg Hīra zurückzuziehen und dort seine Zeit in Gottesdienst und Kontemplation zu verbringen. Ein solches spezielles Widmen einer Zeitspanne für Gottesdienst wird auf Arabisch als I’tikāf bezeichnet. Auch nachdem er zum Propheten geworden war, pflegte der Gesandte Allāhs – Segen und Friede seien auf ihm – weiterhin diese Praxis, indem er sich die letzten zehn Tage des Ramadān in die Moschee zurückzog und dort seine gesamte Zeit dem Gottesdienst widmete.

In ähnlicher Weise verbrachte auch der Prophet Mūsā – auf ihm sei der Friede – vierzig Tage in Gottesdienst und Kasteiung bevor ihm auf dem Berg Sinai der Segen der Ansprache Allāhs, des Erhabenen, zuteil wurde. Der Prophet Yūsuf – auf ihm sei Friede – verbrachte zwölf Jahre im Gefängnis, bevor er zum Verwalter Ägyptens wurde. Er durchlebte die verschiedensten Schwierigkeiten und Prüfungen, während derer er seine Persönlichkeit immer weiter in Hingabe und Gottesdienst vervollkommnete, bis sein Herz völlig von jeglichem Vertrauen auf vergängliche Wesen geläutert war und schließlich ganz allein Allāh, dem Erhabenen, gehörte.

Bevor er seine Himmelsreise [mi’rāj] antrat, wurden dem ehrwürdigen Propheten Muhammad – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – die Geheimnisse der Sure al-Inschirāh (94:1-8) eröffnet. Seine Brust wurde ihm geöffnet und sein Herz wurde gereinigt; dann wurde es mit Wissen und spiritueller Weisheit erfüllt. Auf diese Weise wurde er auf all die wundersamen und außergewöhnlichen Geschehnisse vorbereitet, denen er während der Mi’rāj begegnen sollte.

Wenn selbst Allāhs auserwählte Diener, die Propheten, sich einem spirituellen Training und einer Reinigung des Herzens unterziehen mussten, wie können dann gewöhnliche Sterbliche wie wir ohne einen solchen Prozess auskommen? Selbst ein einziges Haar, das von der Unreinheit weltlichen Verlangens verunreinigt ist, kann sich nicht dem göttlichen Licht der spirituellen Welt nähern. Eine Nase, die von Schmutz blockiert ist, kann nicht den Duft von Blu­men und Rosenblüten riechen, und durch ein beschlagenes Fenster können wir nichts sehen. Und ebenso, wie ein Teilchen einer unreinen oder fragwürdigen Substanz einen ganzen Krug reinen Quellwassers ungenießbar machen kann, können spirituelle Verunreinigungen das Herz am Empfang göttlicher Erleuchtung und spiritueller Segnungen hindern. Um die Bedeutung der Notwendigkeit der Reinigung des Herzens von allen möglichen weltlichen Krankheiten zu betonen, verkündet Allāh, der Allmächtige, im Qur’ān:

{An jenem Tage werden weder Besitz noch Nachkommen nützen, sondern nur, wenn jemand mit einem reinen Herzen er­scheint.} (26:88-89)

Nur durch spirituelles Training ist es dem Menschen möglich, sein Herz von allen Arten übler Gedanken zu befreien. Bevor es eine derartige Erziehung genossen hat, ist das Herz wie ein Stück groben, ungeschmiedeten Eisens. Es muss erst einmal im Feuer erhitzt werden, um Verunreinigungen zu entfernen, und dann mit schweren Schmiedehämmern bearbeitet werden, um schließlich die ihm bestimmte Form zu erlangen. Wenn das Herz dann durch das spirituelle Training vervollkommnet ist, kann es schauen und erkennen, was die physischen Augen nicht sehen und der Verstand nicht begreifen kann. Maulānā Jalāl al-Dīn Rūmī beschreibt seinen eigenen Zustand, bevor er den spirituellen Weg beschritt, mit den Worten: „Ich war roh!“ – obwohl er zu jener Zeit bereits einen angesehenen Posten auf dem Gebiet der äußeren Wissenschaften des Islam an einer seldschukischen Hochschule [madrasa] bekleidete –, während er über jene Phase, in der sich ihm die Mysterien des Universums wie ein Buch enthüllten, sagte: „Ich war gekocht.

Die Gefährten des Propheten – Allāh segne ihn und sie und schenke ihnen allen Frieden – sind die erhabensten Beispiele solch spiritueller Vollkommenheit. Vor der Ankunft des Islam waren manche von ihnen so hartherzig gewesen, dass sie ihre eigenen Töchter bei lebendigem Leibe begruben. Nachdem sie den Islam angenommen hatten, wurden sie zu Denkmälern der Barmherzigkeit und Empfindsamkeit des Herzens.

Kurz gesagt, können wir natürlich den Islam ohne Tasawwuf praktizieren, doch werden wir dann niemals Vollkommenheit erreichen. Denn wenn die Methoden der Sufis aus der Praxis des Islam ausgeschlossen werden, kann nie­mand mehr die als Ihsān bekannte Stufe der Vorzüglichkeit erreichen, welche bedeutet, Allāh so zu dienen, als würde man Ihn sehen, und auch wenn man Ihn nicht sieht, zu wissen, dass Er einen sieht.

Altınoluk: Was würden Sie, über das bereits Erwähnte hinaus, unseren Lesern, die bestimmt gerne Ihre spirituellen Begleiter auf dem Sufi-Weg sein möchten, raten? Wir sind sicher, dass diese bereits auf das Erscheinen Ihres Buches İmandan İhsana Tasavvuf warten, in welchem sie detail­lier­tere Erklärungen zum Thema Tasawwuf aus­geführt haben.

Osman Nuri Topbaş: Lassen Sie mich zusätzlich zu dem, was ich bereits gesagt habe, einige Punkte und Ratschläge erwähnen, auf deren Betonung die Sufi-Meister stets besonde­ren Wert gelegt haben: Tasawwuf ist eine Methode der Charaktererziehung, die auf dem Leben und den Lehren des Gesandten Allāhs beruht – möge der All-Erhabene ihn segnen und ihm Frieden schenken!

Tasawwuf besteht vor allem da­rin, sein Gesicht in Liebe und Respekt Allāh und Seinem Gesandten zuzuwenden. Die Gottesfreunde, die Allāh und Seinem Gesandten – Segen und Friede seien auf ihm – als einzigem Gegenstand ihrer Liebe das Innerste ihrer Herzen gewidmet haben, sind zu Freunden der gesamten Menschheit geworden. Enge Verbundenheit und Suhba [Zusammensein] mit den Rechtschaffenen sind die Mittel der Gläubigen, um selbst rechtschaffen zu werden. Jene, die über eine hohe Stufe spiritueller Energie verfügen, sind in der Lage, diese Energie an andere weiterzugeben. Nachdem es ihnen gelungen ist, ihre eigenen Seelen von den Untugenden und Lastern des Nafs zu befreien, können sie diesen Zustand spiritueller Reinheit auf jene, die sich ihrer Gegenwart befinden, übertragen. Mit solchen Menschen eng verbunden zu sein, verwandelt einen Gottesdiener in ein Wesen, aus dessen Worten und Handlungen die gesamte Schöpfung Nutzen ziehen kann.

Die Liebe verbindet zwei Herzen mit einem Band der Liebe; und im Tasawwuf verbindet ein solches Band spiritueller Liebe den Schüler [murīd] mit seinem Meister [scheikh]. Wenn der Murīd seinen Scheikh liebt und ihn respektiert, imitiert er dessen Handlungen in jeder Hinsicht, wodurch das Verhalten des Schülers sich vervollkommnet. Deshalb sollten wir als Muslime der Methode der Liebe Vorrang vor allen anderen Methoden einräumen. Die Grundlage islamischen Charakters besteht darin, Allāh, dem Erhabenen, in Aufrichtigkeit und Liebe zu dienen. Der Liebesbeweis und der Beleg unserer Aufrichtigkeit finden sich im Gottesdienst und im Dienst für Seine Schöpfung. Und mit Hilfe von Liebe sind auch die schwierigsten Aufgaben leicht und auf höchst befriedigende Weise zu lösen.

Die Größe eines Dienstes bemisst sich an der Größe des Opfers, das man bei dessen Ausführung auf sich nimmt. Aufrichtiger Dienst ist ein Hinweis auf spirituelle Vervollkommnung, und die Herzen jener Menschen, die diese erreichen, werden zu Orten göttlicher Manifestationen [tajalliyyāt]. Je mehr der Mensch sich dabei Allāh nähert, desto empfänglicher wird sein Herz für die Erfahrungen der spirituellen Wirklichkeit. Auf der anderen Seite verliert der Mensch, je mehr er von seinem Nafs eingenommen ist, um so mehr von seiner Mensch­lichkeit.

Zu den Namen Allāhs, des Erhabenen, zählen al-Jamīl [der Inbegriff aller Schönheit] und al-Jalīl [der Majestätische], doch Seine beiden Namen al-Rahmān [der All-Gnädige] und al-Rahīm [der All-Barmherzige] werden im Qur’ān häufiger als all Seine anderen Namen erwähnt. Deshalb sollte ein gläubiger Muslim versuchen, in Nachahmung seines erhabenen Herrn, Gnade und Barmherzigkeit zu seinen hervorstechendsten Eigenschaften zu machen.

Die Ungerechtigkeiten dieser Welt sind, vor allem anderen, Folgen eines Mangels an Barmherzigkeit und Liebe. Wer unfähig ist, zu lieben, wird leicht zu einem Despoten oder Tyrannen, der Furcht und Hass benutzt, um andere zu kontrollieren. Dabei wird übersehen, dass es kein Herz gibt, das nicht mit Liebe einzufangen wäre! Die Sonne kann sich nicht weigern, Licht und Wärme auszustrahlen. Ebenso ist es rechtschaffenen Seelen unmöglich, anderen Geschöpfen nicht in Liebe und Barmherzigkeit zu begegnen.

Al-Hallāj, der einen besonderen Platz in den Herzen derer einnimmt, die Allāh lieben, betete für jene, die ihn steinigten, mit den Worten: „O mein Herr, vergib jenen, die mich steinigen, noch bevor Du mir vergibst!

Wenn wir unsere spirituelle Stufe erkennen wollen, sollten wir kontinuierlich unsere Handlungen und Empfindungen analysieren. Vor allem die unberechtigten Ansprüche unseres Egos müssen unter Kontrolle gebracht werden. Andernfalls geraten wir allzu leicht in einen Zustand, welcher dem des Iblīs entspricht, der die göttliche Gunst Allāhs durch seinen Stolz und seine Eitelkeit verspielte. Er war der Lehrmeister der Engel im Paradies, doch er war unfähig, seine Emotionen und Begierden zu kontrollieren. Er bildete sich ein, er sei dem Menschen überlegen und wurde schließlich aufgrund seines Stolzes verflucht.

Meister Jalāl al-Dīn Rūmī vergleicht die Laster und schlechten Charakterzüge des Menschen mit den Dornen eines Rosenstrauchs und mahnt, unser Wesen solle einer süß duftenden Ro­se und nicht stechenden Dornen gleichen. Auch wenn uns im Garten dieser Welt die Dornen Schaden zufügen, dürfen wir nicht zulassen, dass unsere Seelen so werden wie diese! Wir sollten uns vielmehr bemühen, die wilde, unbebaute Erde in einen Garten voller duftender Rosen zu verwandeln.