Īthār – Selbstlosigkeit

‘Abd Allāh ibn Ja‘far – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – kam einmal während einer Reise an einem Dattelhain vorbei. Jemand hatte dem Verantwortlichen für diesen Garten, einem schwarzen Sklaven, gerade drei Brotfladen gebracht, als plötzlich ein Hund auftauchte. Der Sklave warf dem Hund einen der Brotfladen hin, und der Hund verschlang das Brot. Daraufhin warf der Sklave diesem das zweite Brot hin, und er fraß auch dieses. Schließlich warf er ihm auch das dritte Brot hin, und der Hund fraß es auf. Daraufhin entspann sich zwischen ‘Abd Allāh und dem Sklaven folgendes Gespräch:

‘Abd Allāh fragte den Sklaven: „Wie viel beträgt dein Lohn?“

Der Sklave antwortete: „Die drei Brotfladen, die du gesehen hast.“

‘Abd Allāh ibn Ja‘far fragte: „Warum hast du alles diesem Hund gegeben?“

Der Sklave sagte: „Normalerweise gibt es hier keine Hunde. Dieser Hund muss von weit her gekommen sein. Mein Herz konnte es nicht ertragen, ihn hungern zu lassen.“

Da fragte ‘Abd Allāh – möge Allāh mit ihm zufrieden sein: „Und was wirst du heute essen?“

Der Sklave antwortete: „Ich werde geduldig sein! Denn meinen Tageslohn habe ich diesem hungrigen Geschöpf Allāhs vermacht.“

Darauf sagte ‘Abd Allāh: „Lobpreis sei Allāh! [subhān Allāh] Von mir wird behauptet, ich sei sehr freigiebig, doch dieser Sklave ist viel freigiebiger als ich!“

Infolge dieser Begebenheit kaufte ‘Abd Allāh ibn Ja‘far anschließend den Dattelhain sowie den Sklaven und schenkte diesem seine Freiheit und den Dattelhain dazu.[1]

Der Islam, der solche gütigen, mitfühlenden und empfindsamen Persönlichkeiten hervorbringt, hat die Pflichtabgabe [zakāt] eingeführt, um nicht Feindschaft und Neid zwischen Armen und Reichen aufkommen zu lassen, und um ein soziales Gleichgewicht herzustellen, sowie eine auf Liebe gegründete Beziehung zwischen diesen beiden Bevölkerungsschichten zu errichten. Darüber hinaus ermuntert er zu freiwilliger Wohltätigkeit, um dem höheren Ideal der Geschwisterlichkeit der Gläubigen näher zu kommen. Auf diese Weise ermöglicht der Islam jedem Gläubigen, Besitzer eines reichen Herzens zu sein, und – seinem Gewissen entsprechend – über das obligatorische Maß an Mitgefühl hinaus bis zum Höhepunkt völliger Selbstlosigkeit zu gehen.

Ein Hauptziel der Religion neben der Bezeugung der göttlichen Einheit besteht im Herstellen gesellschaftlichen Friedens durch die Erziehung freundlicher, rücksichtsvoller und nachdenklicher Menschen. Eine solche Vervollkomm­nung wird nur durch jene Empfindungen von Warmherzigkeit und Mit­leid ermöglicht, deren Sitz das Herz ist; und diese Eigenschaften sind es, die den Menschen in die Lage versetzen, seine Einkünfte – ohne Rücksicht auf die eigenen Bedürfnisse – mit anderen zu teilen. Diese Empfindungen können so weit gehen, dass sie zu einem inneren Verlangen führen, alles, was man besitzt, anderen zu geben. Dies ist, was man auf Arabisch als Īthār, das heißt, vollkommene Selbstlosigkeit, be­zeichnet.

Die Barmherzigkeit ist ein nie verlöschendes Feuer im Herzen eines Muslims. In dieser Welt ist die Barmherzigkeit das essentielle Unterscheidungsmerkmal des Menschen, welches sein Herz auf den geraden Weg hin zur absoluten Wirklichkeit Allāhs führt. Ein barmherziger Gläubiger ist freigiebig, be­scheiden und stets bereit, zu dienen. Zugleich ist er ein Herzensheiler, der den Seelen der Menschen neues Leben verleiht.

Darüber hinaus ist ein barmherziger Gläubiger stets bemüht, seine Dienste voller Liebe und Mitgefühl zu leisten, und stellt dadurch eine Quelle von Hoffnung und Glauben für andere dar. Im Ringen um jede Form von Seelenheil ist er stets in der vordersten Reihe zu finden, und seine Worte, Schriften, Handlungen und seine persönliche Gegenwart spielen immer eine konstruktive Rolle bei der Linderung und Beseitigung von Elend, Leid und Kummer. Ein Gläubiger ist immer an der Seite der Trauernden und Leidgeplagten, der Verlassenen und der Hoffnungslosen zu finden, denn die ersten Früchte des Glaubens eines wahrhaft Gläubigen sind Barmherzigkeit und Mitgefühl.

Der menschliche Charakter wird durch den Qur’ān vervollkommnet, und wenn wir den Qur’ān aufschlagen, sind die ersten göttlichen Eigenschaften, denen wir dort begegnen „der All-Gnädige“ [al-Rahmān] und „der All-Barmherzige“ [al-Rahīm]. Unser Herr verkündet uns, dass Er der Barmherzigste aller Barmherzigen ist; und er gebietet Seinen Dienern, diese Eigenschaften zu Eigenschaften ihres Charakters zu machen. Demzufolge ist es die Aufgabe eines wahrhaft Gläu­bigen, dessen Herz ganz von der Liebe zu seinem Herrn durchdrungen ist, allen Geschöpfen Allāhs in Barmherzigkeit und Mitgefühl zu begegnen. Die Liebe zu Allāh führt so in ihrer Konsequenz zu liebevoller und mitfühlender Hinwendung zu Seinen Geschöpfen. Einer, der Allāh von ganzem Herzen liebt, empfindet jedes Opfer für Ihn als Freude, und das Opfer wird zum Gradmesser seiner Hingabe an den Geliebten.

In diesem Sinne ist das Geben wohltätiger Spenden [sadaqa] ein Ausdruck der Liebe zu Allāh; und in der Tat gibt es viele verschiedene Arten solcher Spenden. Die höchste Form des Gebens ist, wie schon erwähnt, die Īthār genannte, vollkommene Selbstlosigkeit, die darin besteht, die Bedürfnisse anderer über die eigenen zu stellen. Diese Selbstlosigkeit stellt die höchste Stufe der Empfindsamkeit dar, über die jeder reife Gläubige – im Hinblick auf sein soziales Verhalten – reflektieren sollte.

Um in den von Strömen göttlicher Gnade durchflossenen Bereich absoluter Selbstlosigkeit einzutreten, bedarf es jedoch eines von Güte erfüllten Herzens und einer höchst empfindsamen Seele, wie sie sich in Vollkommenheit und in schönster Weise in den Zuständen der Propheten und Gottesfreunde präsentieren. Verständlicherweise ist nicht jeder in der Lage, diese Gipfel zu erklimmen und nach den Sternen zu greifen. Doch je mehr wir uns diesem Horizont nähern, umso größere Segnungen werden uns zuteil; und selbst der kleinste Schritt in Richtung Selbstlosigkeit ist ein ewiger Gewinn, der niemals verloren gehen wird.

Wie in einem Bericht des Abū Hurayra – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – überliefert wird, kam einmal ein Mann zum Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – und sagte: „O Gesandter Allāhs, ich bin hungrig.“ Da schickte Allāhs Gesandter jemanden zu einer seiner Ehefrauen und ließ fragen, ob sie etwas zu essen hätte. Doch sie ließ ihm mitteilen: „Ich schwöre bei Allāh, der dich als Propheten gesandt hat, dass wir außer Wasser nichts im Hause haben!“ Nachdem er erfahren hatte, dass es bei seinen anderen Ehefrauen auch nicht besser stand, fragte der ehrwürdige Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden: „Wer möchte diesen Mann heute Nacht bei sich als Gast aufnehmen?

Da meldete sich einer der Ansār und sagte: „Ich will ihn bei mir als Gast aufnehmen, O Gesandter Allāhs.“ Und er nahm den Mann mit nach Hause. Als er dort ankam, fragte er seine Frau: „Gibt es irgendetwas zu essen im Haus?

Sie antwortete: „Nein, wir haben gerade einmal genug für die Kinder.

Da sagte er: „Beschäftige dich mit den Kindern, und falls sie etwas zu essen haben wollen, leg sie schlafen! Wenn der Gast hereinkommt, lösche das Licht, und dann tun wir so, als würden wir auch essen.

So setzten sie sich zum Essen hin und der Gast aß sich satt, während sie nur so taten, als äßen sie, und dann hungrig zu Bett gingen. Am nächsten Morgen ging dieser Gefährte zum Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden. Als dieser ihn erblickte, sagte er: „Allāh, der Erhabene, ist wegen dessen, was ihr gestern für euren Gast getan habt, sehr zufrieden mit euch![2]

Der Gottesfreund Scheikh Mahmud Sami Ramazanoğlu besaß ein Diplom als Jurist, doch er praktizierte nie auf diesem Gebiet, weil er befürchtete, eventuell die Rechte eines anderen Menschen zu verletzen. Stattdessen arbeitete er lieber in Istanbul als Buchhalter in einem Laden im Viertel Tahtakale. Auf dem Weg zur Arbeit nahm er die Fähre über den Bosporus nach Karaköy und ging dann von dort zu Fuß nach Tahtakale. Auf diese Weise konnte er das Fahrgeld für den Bus sparen und diesen Betrag als Spende geben.

Welch wunderbares Vorbild für uns sind doch der treffliche Charakter und die erhabenen Zustände solch großartiger Persönlichkeiten! Selbst indem wir kleine Opfer bringen, etwa wenn es um unseren persönlichen Komfort, die Renovierung unseres Zuhauses oder unsere täglichen Ausgaben geht, können wir ihrem Beispiel folgen und so an ih­rem edlen Charakter teilhaben.

Vollkommene Selbstlosigkeit jedoch geht weit über das, was man Freigiebigkeit [sakhāwa] nennt, hinaus, denn Freigiebigkeit bedeutet, Wohlstand zu opfern, den man selbst nicht braucht. Selbstlosigkeit bedeutet jedoch, das zu geben, was man selbst braucht.

Dabei richtet sich der spirituelle Gegenwert solch vollkommener Selbstlosigkeit nach der Größe des Opfers, das ein Gottesdiener bringt. Allāh, der Erha­be­ne, lobte die Ansār, die ihren Wohlstand den Muhājirūn übereigneten und deren Bedürfnisse über ihre eigenen stellten, in folgendem Vers im Qur’ān:

{Und diejenigen, die vor ihnen in der Wohnstätte des Glaubens zu Hause waren, lieben jene, die zu ihnen ausgewandert sind. Sie empfinden in ihrem Inneren kein Bedürfnis für das, was diesen zugekommen ist, und sie bevorzugen sie vor sich selbst, auch wenn sie selbst Not leiden. Und wer vor der Habsucht seines Egos bewahrt bleibt, das sind die wahrhaft Er­folg­reichen!} (59:9)

Als der Kalif ‘Umar ibn al-Khattāb – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – auf dem Weg nach Jerusalem war und sich dem Stadttor näherte, bestand er darauf, dass sein Diener, der gerade an der Reihe war, auf dem einen Kamel, das sie beide teilten, zu reiten, im Sattel blieb. So ritt der Diener nach Jerusalem ein, während der Kalif die Stadt zu Fuß betrat. Dies ist ein weiteres Beispiel für vollkommene Selbstlosigkeit, das zudem zeigt, dass diese sich nicht unbedingt auf ma­te­rielle Dinge beziehen muss; auch das hier beschriebene Verhalten ist eine Art von Wohltätigkeit.

Vollkommene Selbstlosigkeit, die höchste Stufe der Wohltätigkeit, bedeutet in ihrer Essenz, sich selbst etwas zu entreißen und wegzugeben, um so einem Bruder (oder einer Schwester) im Glauben den eigenen Anteil zukommen zu lassen. Diese Art von Selbstlosigkeit ist eine spezielle Art von Wohltätigkeit, wie sie ganz besonders von den Propheten, Gottesfreunden und rechtschaffenen Gottesdienern [sālihūn] praktiziert wird.

Die folgende Erzählung, die von dem ehrwürdigen ‘Alī ibn Abī Tālib und seiner edlen Gattin Fātima handelt – möge Allāh mit ihnen zufrieden sein –, de­monstriert in trefflicher Weise, was mit vollkommener Selbstlosigkeit ge­meint ist:

Ibn ‘Abbās berichtete, dass ‘Alī und Fātima – möge Allāh mit ihnen allen zufrieden sein – einmal drei Tage lang fasteten, um ein Gelübde zu erfüllen, das sie, als ihre beiden Söhne Hasan und Husayn krank waren, um deren Genesung willen geschworen hatten. Am ersten Tag hatten sie zum Fastenbrechen eine Mahlzeit aus Gerstenmehl gekocht und wollten gerade ihr Fasten brechen, als es an der Türe klopfte. Es war ein hungriger Bedürftiger. Die gesegnete Familie gab ihm von ganzem Herzen um Allāhs willen ihr Essen, dann brachen sie ihr Fasten mit Wasser. Als sie am zweiten Tag ihr Fasten brechen wollten, stand eine Waise vor ihrer Tür; und sie gaben ihr Essen der Waise und brachen ihr Fasten wieder mit Wasser. Am dritten Tag kam ein Sklave und bat um ihre Hilfe. Sie zeigten große Geduld und Selbstlosigkeit und gaben ihr Essen dem Sklaven.

Diese Art unvergleichlicher Großzügigkeit, Bevorzugung anderer vor sich selbst, sowie dieser erhabene Charakter, werden in den folgenden Qur’ānversen gerühmt:

{Und sie geben ihr Essen – und mag es ihnen noch so lieb sein – dem Armen, der Waise und dem Gefangenen (mit den Worten:) „Wir speisen euch nur um Allāhs willen. Wir begehren von euch weder Lohn noch Dank dafür. Wahrlich, wir fürchten von unserem Herrn einen finsteren, unheilvollen Tag!“ Doch Allāh bewahrt sie vor dem Unheil jenes Tages und lässt sie strahlendes Glück und Freude vorfinden.} (76:8-11)

Doch niemand in der gesamten Schöpfung Allāhs ist im Hinblick auf seine Freigiebigkeit, seine Wohltätigkeit und seine Selbstlosigkeit mit dem Propheten – Allāhs segne ihn und schenke ihm Frieden – zu vergleichen! Seine Freigiebigkeit übertraf die aller gewöhnlichen Menschen bei Weitem. Er – Allāhs Segen und Friede seien auf ihm – war freigiebig mit seinem Wissen, mit seinem Besitz und mit seinem ganzen Wesen, indem er auf dem Wege Allāhs alle erdenklichen Opfer brachte, die Religion erklärte, Menschen auf den rechten Weg führte, die Hungrigen speiste, die Unwissenden lehrte und beriet, den Bedürftigen half und ihnen ihre Bürde erleichterte.

Safwān ibn Umayya war unter den Quraysch als ein überzeugter Anhänger ihres Glaubens bekannt, nahm aber trotzdem auf Seiten des Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – an den Feldzügen von Hunayn und Tā’if teil, obwohl er kein Muslim war. Als er an einem Ort namens Jīrāna die gesammelte Kriegsbeute bestaunte, fragte ihn der Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden: „Gefällt dir das?“, und als er mit „Ja!“ antwortete, sagte der Prophet: „Nimm es; es gehört alles dir!“ Daraufhin sprach Safwān das Glaubensbekenntnis des Islam [schahāda] und wurde zum Muslim. Dabei sagte er: „Kein Herz kann derart freigiebig sein, außer dem Herzen eines Propheten![3]

Selbstlosigkeit ist die großartigste Stufe von Freigiebigkeit. Wir sollten uns stets daran erinnern, dass viele Menschen, die sich zuvor hartnäckig dagegen gewährt hatten, durch solch freigiebiges Verhalten des Propheten, seiner Gefährten und der rechtschaffenen Gottesdiener späterer Generationen – Segen und Friede seien auf ihnen allen – zu Gläubigen wurden, und dass auf diese Weise oft aus Feinden Freunde wurden. Ebenso stärkte die Selbstlosigkeit viele Gläubige in ihrer Liebe zu ihren Glaubensgefährten. Allāhs Gesandter – Segen und Friede seien auf ihm – wies niemals einen Bittsteller ab, wenn es in seiner Macht stand, dessen Bitte zu erfüllen. Einmal wurden ihm 90.000 Dirham gebracht, und er verteilte sie an alle Bedürftigen, die vorbeikamen, bis nichts mehr davon übrig war.

1.1Birr – Die Fähigkeit freigiebig zu spenden

Die Fähigkeit, freigiebig zu spenden, die im Qur’ān mit dem Wort Birr bezeichnet wird, ist ebenso wie die Īthār genannte vollkommene Selbstlosigkeit eine edle Form von Wohltätigkeit. Der Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden –, das ideale Vorbild in Bezug auf alle ethischen Werte, war auch auf diesem Gebiet unübertroffen. Die folgende Geschichte verdeutlicht seine Empfindsamkeit im Umgang mit seinen Glaubensbrüdern, welche er – selbst in den schein­bar unbedeutendsten Dingen – sich selbst vorzuziehen pflegte:

Eines Tages teilte der Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – ein Zahnholz [miswāq] in zwei Teile, wobei es sich ergab, dass die eine Hälfte schön und gerade, die andere hingegen krumm und eher unansehnlich war. Der Prophet – Segen und Friede seien auf ihm – gab das bessere, gerade Stück Zahnholz seinem Gefährten, der bei ihm war, und behielt das krumme für sich selbst. Als sein Gefährte daraufhin sagte: „Dieses schöne ist besser für dich, O Gesandter Allāhs!“, antwortete er: „Der Mensch, der jemanden begleitet – und sei es auch nur für eine Stunde –, wird (am Jüngsten Tag) befragt werden, ob er gewissenhaft im Hinblick auf die Rechte seines Gefährten war![4]

Ein weiteres Beispiel für diese Art wohltätigen Verhaltens und die Bereitschaft, freigiebig zu spenden, findet sich in der folgenden Geschichte:

Eines Tages waren die Gefährten in der Moschee um den Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – versammelt und lauschten einer seiner Ansprachen. Da rezitierte der Prophet den Vers: {Ihr werdet nicht Rechtschaffenheit erlangen, bis ihr von dem spendet, was ihr liebt. Und was immer ihr spendet, wahrlich, Allāh weiß es genau.} (3:92)

Da begannen die Gefährten des Propheten – Allāhs Segen und Friede seien auf ihm und all seinen Gefährten – sich selbst zu fragen, ob sie wirklich ihren meistgeliebten Besitz spenden würden, denn sie spürten die Worte, die ihnen der Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – verkündet hatte, tief im Innersten ihrer Herzen. So befragten sie sich selbst, ob sie wirklich bereit wären, das zu geben, was ihnen am Liebsten war. Auf einmal erhob sich einer der Gefährten. Dies war Abū Talha – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – und sein Gesicht erstrahlte hell vom Glanz des Glaubens. Ihm gehörte ein großer Garten mit sechshundert Dattelpalmen, ganz nahe der Prophetenmoschee, und er liebte diesen Garten sehr. Er pflegte den Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – dorthin einzuladen und dieser hatte ihn und seinen Garten gesegnet. Abū Talha – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – sagte:

O Gesandter Allāhs! Am meisten liebe ich von all meinem Besitz den Dattelgarten hier in der Stadt, den du auch kennst. In diesem Moment übergebe ich ihn um Allāhs willen dem Gesandten Allāhs. Du kannst damit tun, was du willst, und ihn den Armen geben.“

Daraufhin ging er zu dem Garten und fand seine Frau darin im Schatten eines Baumes sitzen. Er blieb außerhalb des Gartens stehen und seine Frau fragte ihn:

O Abū Talha, warum wartest du dort draußen? Komm doch herein!“

Da antwortete ihr Abū Talha – möge Allāh mit ihm zufrieden sein:

Ich kann nicht hineinkommen, und auch du solltest deine Sachen nehmen und herauskommen!“

Auf diese unerwartete Antwort hin fragte seine Frau:

Warum denn, O Abū Talha? Ist das denn nicht unser Garten?“

Nein“, sagte er, „von jetzt an gehört dieser Garten den Armen von Medina!

Dann rezitierte er für sie die frohe Botschaft des eben geoffenbarten Qur’ānverses und berichtete ihr, wie er daraufhin sofort diesen Garten gespendet hatte. Seine Frau fragte:

Hast du ihn in unserer beider Namen oder nur in deinem eigenen ge­spendet?“

In unserer beider Namen“, antwortete Abū Talha – möge Allāh mit ihm zufrieden sein.

Die Antwort seiner Frau darauf erfreute und beruhigte ihn zugleich. Sie sagte:

Möge Allāh mit dir zufrieden sein, O Abū Talha! Ich habe schon oft das Gleiche gedacht, wenn ich die Armen um uns sah, doch habe ich mich nie getraut, es dir zu sagen. Möge Allāh deine Spende annehmen! Ich verlasse jetzt den Garten und komme mit dir.“

Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, welches Klima von Glück und Zufriedenheit die Welt erfassen würde, wenn diese Denkweise in den Seelen der Menschen Wurzeln schlüge. Wie viel Güte und Schönheit würde dadurch in Erscheinung treten! Genau das war es, was Abū Talha – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – veranlasst hatte, ein solches Opfer zu bringen.

Der Gesandte Allāhs – Segen und Friede seien auf ihm – ermunterte selbst jene seiner Gefährten, die sehr wenig besaßen, wohltätig zu sein. So riet er beispielsweise Abū Dharr – möge Allāh mit ihm zufrieden sein –, obwohl dieser einer der Ärmsten unter seinen Gefährten war: „O Abū Dharr, wenn ihr Suppe kocht, tut mehr Wasser hinein und teilt sie mit euren Nachbarn![5]

Ein Gläubiger sollte Licht ausstrahlen, wie der Mond in einer dunklen Nacht. Er sollte rücksichtsvoll, gefühlvoll, gütig, selbstlos, großzügig, barmherzig, mitfühlend und in Bezug auf das Geben wohltätiger Spenden voller Enthusiasmus sein.

In dieser Zeit wirtschaftlicher Krisen ist es umso dringender notwendig, wohltätig und selbstlos zu sein. Dabei dürfen wir nie vergessen, dass auch wir selbst in eine Lage geraten können, in der wir mit Armut und Not zu kämpfen haben. Deshalb sind wir es Allāh, als Ausdruck unseres Dankes, schuldig, gegenüber den Kranken, den von Kummer und Leid Geplagten, den Einsamen, den Bedürftigen und den Hungrigen wohltätig zu sein und ihnen in selbstloser Weise zu helfen. Wir müssen jene Geschenke, die uns gegeben wurden, mit den Bedürftigen teilen, auf dass die Herzen, die wir dadurch mit Freude erfüllen, zu Mitteln unseres spirituellen Fortschritts in dieser Welt und zu Quellen göttlichen Lohnes und ewiger Glückseligkeit im Jenseits werden.

O mein Herr, lass Du alle Formen von Barmherzigkeit zu niemals endenden Schätzen für unser spirituelles Leben werden!

O Herr, führe Du uns dahin, Verkörperungen des selbstlosen Lebens unseres Propheten Muhammad – Segen und Friede seien auf ihm – und lebendige Manifestationen des selbstlosen Lebens jener rechtschaffenen Gelehrten und Gottesfreunde zu werden, die seinem Beispiel folgen!

Āmīn!

 

[1] Diese Geschichte überliefert Imām al-Ghazālī in seinem Kimyā-i Sa‘āda.

[2] Überliefert von al-Bukhārī und Muslim in ihren beiden Sahīh-Sammlungen.

[3] Vom Autor zitiert aus Islam Tarihi, S. 474.

[4] Vom Autor zitiert aus al-Ghazālīs Ihyā’ ‘Ulūm al-Dīn, Bd. II, S. 435.

[5] Überliefert in Muslims Sahīh, Birr, 142.