Ihsān wa Murāqaba – Vorzüglichkeit und Wachsamkeit

Tasawwuf bedeutet, sich als Diener Allāhs ständig bewusst zu sein, dass man sich in Seiner Gegenwart befindet (Ihsan)[1]. Nur jene Gottesdiener, die in diesem Bewusstsein leben, sind fähig, all ihren Obliegenheiten, sowohl gegenüber ihrem Schöpfer, als auch gegenüber Seinen Geschöpfen, nachzukommen. Jede Seele lebt im Angesicht der Realität, die Allāh, der Erhabene, mit den Worten verkündet: {Und Wir sind ihm näher als seine Halsschlagader!} (50:16)

Diesen Zustand der Bewusstheit bezeichnet man als Zustand der Vorzüglichkeit [ihsān] und Wachsamkeit [murāqaba]. Wer sich in diesem Zustand befindet, vergisst nie, dass er sich unter Allāhs Beobachtung befindet und dass all seine Handlungen und Gedanken Ihm bekannt sind. Diese Position ist wie ein starker Schutzschild, der den Menschen vor dem Begehen von Sünden bewahrt, denn man kann schwerlich Sünden begehen, während man sich in der Gegenwart Allāhs befindet und das Herz Ihn mit den Worten „O mein Herr!“ anruft.

Schon wenn er sich von anderen Personen beobachtet weiß, hält der Mensch sich gewöhnlich von Sünden fern – selbst wenn jene nicht die Macht haben, ihn zu bestrafen. Kann so ein Mensch, wenn er wirklich den beschriebenen Zustand der Vorzüglichkeit und der Wachsamkeit empfindet, bewusst dem Willen des Allmächtigen zuwiderhandeln? Niemals! Im Folgenden findet sich ein äußerst treffendes Beispiel dafür aus der Zeit der Prophetengefährten:

Eines Nachts ging der Kalif ‘Umar – möge Allāh mit ihm zufrieden sein –, wie es seine Gewohnheit war, durch die Straßen von Medina. Plötzlich blieb er stehen, weil er unbeabsichtigt Ohrenzeuge eines Streitgesprächs zwischen einer Mutter und ihrer Tochter wurde, das seine Aufmerksamkeit erregte. Die Mutter sagte zu ihrer Tochter:

Verdünne die Milch, die wir morgen verkaufen wollen, ein wenig mit Wasser!“

Die Tochter antwortete:

Mutter, hast du nicht gehört, dass der Kalif untersagt hat, die Milch zu verdünnen?“

Die Mutter wurde ärgerlich und sagte:

Tochter, woher sollte es der Kalif denn erfahren, wenn wir zu dieser nächt­lichen Stunde die Milch verdünnen?“

Doch die Tochter, in deren Herz die Furcht vor Allāh lebendig war, wollte ihrer Mutter nicht darin folgen und sagte:

Mutter, ich behaupte nicht, dass der Kalif uns sehen kann, aber was ist mit Allāh? Meinst Du, dass auch Er uns nicht sieht? Wir können diesen Schwindel vielleicht vor den Leuten verbergen, aber unmöglich vor Allāh, dem All-Hörenden und All-Sehenden!“

Die Art, wie das Mädchen, dessen Herz mit göttlicher Wahrheit erfüllt war, seiner Mutter voller Respekt und Furcht vor Allāh antwortete, berührte ‘Umars Herz – möge Allāh mit ihm zufrieden sein. Der Amīr al-Mu’minīn, der Führer der Gläubigen, erkannte, dass sie über außergewöhnliche Gottesfurcht verfügte und machte sie deshalb später durch Heirat mit einem seiner Söhne zu seiner Schwiegertochter. Aus dieser Abstammungskette wurde später ‘Umar ibn ‘Abd al-‘Azīz geboren, der auch als fünfter rechtgeleiteter Kalif bezeichnet wird.

Der entscheidende Punkt an dieser Geschichte ist, dass man stets, wo immer man sich auch befinden mag, im Zustand der Wachsamkeit, das heißt, im Bewusstsein der Gegenwart Allāhs leben sollte. Im Edlen Qur’ān heißt es dazu: {Und Er ist mit euch, wo immer ihr seid – und Allāh sieht genau was ihr tut!} (57:4)

Allāh, der Allmächtige, ist zu jeder Zeit mit jedem seiner Geschöpfe und Er kennt alle Handlungen Seiner Geschöpfe; Er beobachtet sie und Er ist ihr Hüter. Zu denken, dass er in Unkenntnis seiner Geschöpfe wäre, würde Allāh eine Schwäche zuschreiben – und Er ist erhaben über jegliche Art von Schwäche! Wenn der Mensch sich dieser Realität in dem Maße bewusst wäre, wie er sollte, könnte er den spirituellen Weg mit Leichtigkeit beschreiten. Er würde die Angelegenheiten dieses vergänglichen Lebens hinter sich lassen und sich nur noch für die spirituellen Dinge interessieren. Das Gefühl, mit Allāh zu sein, würde ihn ständig in einem Bewusstseinszustand halten, der es ihm leicht macht, sein Herz vom Rost des Weltlichen zu reinigen.

Von einem der Gottesfreunde wird berichtet, dass er sagte: „Ein Reisender, der auf dem Bahnhof einschläft, wird seinen Zug verpassen. Die Welt ist wie ein Bahnhof, und wir müssen wach sein, um in den richtigen Zug zu steigen.“ Zu spüren, dass Allāh bei uns ist, erfüllt uns einerseits mit Ehrfurcht, andererseits ist es dem Gläubigen ein Trost, Seine Nähe zu empfinden. Der folgende Qur’ānvers beschreibt diese Nähe:

{Siehst du denn nicht, dass Allāh alles weiß, was in den Himmeln ist, und alles, was auf Erden ist? Es gibt keine geheime Unterredung zwischen Dreien, bei der Er nicht der Vierte wäre, noch eine zwischen Fünfen, bei der Er nicht der Sechste wäre, noch zwischen weniger oder mehr als diesen, ohne dass Er mit ihnen wäre, wo immer sie sind. Dann wird Er ihnen am Tage der Auferstehung verkünden, was sie getan haben – wahrlich, Allāh weiß über alle Dinge Bescheid.} (58:7)

Eine weitere in diesem Zusammenhang interessante Begebenheit während der Herrschaftszeit des Kalifen ‘Umar – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – ereignete sich, als dieser Mu‘ādh zu den Banū Kilāb entsandte, um dort Gelder aus der Staatskasse auszuzahlen, Güter zu verteilen und die von den Wohlhabenden eingenommenen Gelder aus der Zakāt an die Bedürftigen zu verteilen:

Mu‘ādh – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – pflegte jede seiner Missionen mit größter Sorgfalt auszuführen, und anschließend mit schönen Erinnerungen daran, wie er die Herzen der Menschen gewonnen hatte, zurückzukehren. Als er diesmal zurückkam, war alles, was er an weltli­chem Besitz mitbrachte, ein Stück Stoff, mit dem er seinen Nacken vor der Sonne und dem Staub schützte; und dieser Schal war genau der, den er schon getragen hatte, als er aufgebrochen war. Seine Frau hielt dies nicht länger aus und sagte zu ihm: „Leute wie du, die solche Aufgaben ausführen, sollten bezahlt werden. Und sie sollten ein paar Geschenke für ihren Haushalt mitbringen! Also, wo sind unsere Ge­schenke?

Mu‘ādh – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – erwiderte: „Ich hatte die ganze Zeit einen Aufseher an meiner Seite, der über alle Ausgaben und Einnahmen genau Buch führte.

Als sie das hörte, wurde seine Frau ärgerlich und sagte: „Der Gesandte Allāhs – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – hat dir stets in allen Dingen vertraut, und ebenso Abū Bakr. Nun ist ‘Umar an der Reihe, und er schickt einen Aufseher mit dir? Traut er dir etwa nicht?

Ihre Worte kamen zuerst ‘Umars Ehefrau zu Ohren und durch sie erfuhr ‘Umar davon. Der ließ Mu‘ādh zu sich rufen und fragte ihn vorwurfsvoll: „Was höre ich da? Ich soll dir einen Aufseher mitgeschickt haben? Meinst du, ich würde dir nicht trauen?

Mu‘ādh – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – antwortete in vielsagender Weise: „O Führer der Gläubigen! Mir fiel keine andere Entschuldigung ein, die ich meiner Frau gegenüber hätte vorbringen können. Wenn ich von einem Aufseher sprach, war damit auch nicht einer deiner Aufseher gemeint, sondern die Aufsicht Allāhs, unter der ich stehe. Sie ist auch der Grund, weshalb ich nichts für meine Dienste nehmen will.

Da verstand ‘Umar – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – seine Absicht, und dass Mu‘ādh in der Tat über alle egoistischen oder weltlichen Interessen erhaben war. Er gab ihm einen Betrag aus seinem eigenen Besitz als Geschenk und sagte: „Nimm dies und besänftige damit deine Familie!

Die Lehre, die wir aus dieser Geschichte ziehen können, ist, dass wir stets in einem Zustand von Wachsamkeit leben sollten. Wir müssen uns zu jeder Zeit bewusst sein, dass unser Herr uns beobachtet. Es ist nichts Außergewöhnliches, dass jemand, der für wohltätige Zwecke arbeitet, dafür bezahlt wird. Doch die Haltung des ehrwürdigen Mu‘ādh – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – ist ein Ausdruck höchster Vortrefflichkeit und Tugend, und auch für diejenigen, die für ihre Tätigkeit in wohltätigen Organisationen bezahlt werden, besteht die Möglichkeit, durch über ihre bezahlte Zeit hinausgehende, zusätzliche Arbeit um Allāhs Willen, in der von Mu‘ādh praktizierten Weise Vortrefflichkeit und Tugend zu beweisen. Sie sollten sich von Zeit zu Zeit selbst überprüfen und ihr eigenes Ego zur Rechenschaft ziehen, wobei sie den warnenden Ratschlag des Kalifen ‘Umar – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – beherzigen dürfen: „Ziehe dich selbst zur Rechenschaft, bevor du (am Jüngsten Tag) zur Rechenschaft gezogen wirst!

Der folgende Ausspruch des Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – erinnert uns daran, wie wichtig es ist, Allāhs zu gedenken und stets wachsam zu sein:

Verschwendet eure Zeit nicht mit eitlem Geschwätz, in dem ihr Allāh vergesst! Denn viel zu reden und dabei Allāh zu vergessen, lässt das Herz absterben; und derjenige, dessen Herz abgestorben ist, ist am weitesten entfernt von Allāh!“[2]

Deshalb sollten wir den ganzen Tag über wachsam sein, wobei jedoch vor allem die Zeit vor der Morgendämmerung [sahar] und die Zeit des Morgengebets [fajr] besonders gesegnet sind. Die in dieser Zeit erfahrenen speziellen Momente sollten das Vorbild für unseren ganzen Tag sein. Wer in dieser Weise die Zeit vor der Morgendämmerung und seinen Tag nutzt, damit Allāh, der Erhabene, mit ihm zufrieden ist, dem wird die Stufe dessen zuteil, auf dem das Wohlgefallen seines Herrn [maqām mardāt al-Rabb] ruht. In seinem Herzen finden sich keine schlechten Veranlagungen mehr; es ist, als wären sie weggebrannt, wie Reisig von durch eine Linse gebündelten Sonnenstrahlen. Auf diese Weise erwachsen anstelle der schlechten Veranlagungen durch Manifestation der göttlichen Eigenschaften der Schönheit gute Veranlagungen, sodass all die vom Schöpfer für Seine Geschöpfe bestimmten positiven Eigenschaften wie Mit­gefühl, Barmherzigkeit, Liebe, Großzügigkeit, Versöhnlichkeit, Lie­bens­wür­dig­keit und Emp­find­samkeit in einem Zustand tiefer Freude erfahren werden können. Ein solcher Mensch zieht sein Ego in bestmöglicher Weise zur Rechenschaft und beobachtet es voller Wachsamkeit: Mit jedem Atemzug schaut er auf seinen Daseinszweck in dieser Welt und achtet sorgfältig darauf, nicht in die Fallen seines Egos und Schaytāns zu fallen. Sein Herz ist ständig mit seinem Herrn. In einem Vers des Edlen Qur’ān heißt es: {Und wisset, dass Allāh zwischen den Menschen und sein Herz kommt!} (8:24)

Ein Diener Allāhs, auf den diese Beschreibung zutrifft, genießt die wahre Süße des Glaubens. Allāh macht ihn zu einem Erben direkt gottgegebenen Wissens, und der Mensch beginnt, die Seiten im Buch der Schöpfung zu entziffern, und Weisheit und Geheimnisse werden ihm enthüllt. Allāh, der Erhabene, sagt: {So fürchtet Allāh, und Allāh wird euch lehren!} (2:282)

Es ist der Zustand der Wachsamkeit, der den Propheten Yūsuf – auf ihm sei der Friede – davor bewahrte, den Verführungskünsten einer schönen, angesehenen und wohlhabenden Frau zu widerstehen. Es waren seine Vorzüglichkeit und seine Wachsamkeit, die ihn davor retteten, in diese Falle zu gehen. In genau solcher Weise sollte die Empfindung von Ihsān fest in unseren Herzen verankert sein, so dass sie sich in unseren Handlungen widerspiegelt und zur Vereinigung mit dem wahren Geliebten führt. Andernfalls bleiben der Zustand der Wachsamkeit und die Empfindung der Vorzüglichkeit leere Worte, die dem Herzen keinerlei Gewinn einbringen.

Das Gefühl der Liebe muss vom Vergänglichen hin zum Ewigen gerichtet werden. Wenn dann diese Liebe auf Allāh ausgerichtet ist, wird der Gottesdiener fähig, die Stufe frommer Weltentsagung [zuhd] zu erklimmen. Auf dieser Stufe wird weltlicher Besitz bedeutungslos; sein Wert be­steht nur noch darin, dass man ihn weggeben kann [infāq]. Denn das Herz findet seine Nahrung in der Liebe zu Allāh und im Trinkbecken [kauthar] rechtschaf­fener Taten [‘amal sālih]. Ein solches Verhalten bereitet dem Geliebten in der Tat Freude! So, wie ein Fluss, der ins Meer fließt, seine eigene Strömung und Färbung aufgibt, und stattdessen die Farbe des Meeres annimmt und in dessen harmonischem Wogen aufgeht, gilt dies auch im Hinblick auf die Stufe der Vorzüglichkeit [ihsān]: wenn der Mensch sich vollkommen Allāh hingibt, treten Seine wunderbaren Eigenschaften durch diesen Menschen in Erscheinung.

Aus diesem Blickwinkel betrachtet, kann man sagen, dass die Stufe der Vorzüglichkeit der Kern oder die Quintessenz des Glaubens ist. All die erstrebenswerten Aspekte des Gottesdienstes und rechtschaffenen Handelns, wie Demut, Aufrichtigkeit, Gottesfurcht und andere Früchte der Erkenntnis, haben ihre Grundlage in dieser Vorzüglichkeit. Denn jede – in dem Bewusstsein, von Allāh beobachtet zu werden, verrichtete – rechtschaffene Tat bringt Zweige der Aufrichtigkeit, Blüten der Gottesfurcht und Früchte demütiger Ergebenheit hervor. Auf dem rechten Weg zu sein und sich von Sünden fern zu halten setzt voraus, sich mit der Empfindung „Mein Herr sieht mich“ der Allgegenwart Allāhs, des Erhabenen, bewusst zu sein und sich dementsprechend zu verhalten – und das nicht nur in der Gegenwart anderer Menschen, sondern auch wenn man alleine ist.

Aus diesem Grund sind alle Grundlagen und Praktiken des Tasawwuf darauf ausgerichtet, das Herz in die Lage zu versetzen, diese Stufe der Vorzüglichkeit [maqām al-ihsān] zu erreichen. Und doch verbringen die Gottesfreunde ihr ganzes Leben damit, nach diesem Zustand zu streben.

Eines Tages wurde Uways al-Qarānī von seiner Mutter gefragt: „O mein Sohn, wie kannst du die ganze Nacht im Gottesdienst verbringen? Wie hältst du das durch?

Uways al-Qarānī antwortete: „O meine liebe Mutter! Ich diene Allāh mit größter Sorgfalt. Mein Herz öffnet sich in Frömmigkeit so weit, dass ich weder Müdigkeit verspüre, noch meine Körperteile wahrnehme. Dabei merke ich gar nicht, wie lang die Nacht ist – und auf einmal ist es schon Morgen.

Da fragte seine Mutter: „Und was ist diese Sache im Gebet, die Khuschū‘ [demütige Ergebenheit] genannt wird?

Er antwortete – möge Allāh mit ihm zufrieden sein: „Dass die Seele nicht einmal bemerkt, wenn durch den Körper ein Speer gestoßen wird.

Ein weiteres, zu diesem Thema passendes, berühmtes Ereignis aus der Geschichte des Islam ist das folgende:

Im Verlauf einer Schlacht wurde ‘Alī – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – verletzt, indem ein Speer seinen Fuß durch­bohrte. Seine Gefährten versuchten, diesen herauszuziehen, doch trotz aller Bemühungen ge­lang es ihnen nicht. Schließlich sagte der ehrwürdige ‘Alī – möge Allāh sein Antlitz erstrahlen lassen: „Wenn ich das Gebet verrichte, dann zieht ihn heraus!“ Und sie taten, was er gesagt hatte, und konnten den Speer mit Leichtigkeit entfernen. Nachdem er sein Gebet mit dem Friedensgruß beendet hatte, fragte ‘Alī sie: „Was habt ihr getan?“ Und sie sagten: „Wir haben den Speer herausgezogen.

Wie sich an diesem Fall erkennen lässt, spürte der ehrwürdige ‘Alī – möge Allāh mit ihm zufrieden sein –, während er in seinem Gebet vollkommen in demütiger Ergebung und spiritueller Verzückung versunken war, weder seinen Körper, noch empfand er irgendetwas von dem, was in der Welt des Diesseits um ihn herum geschah. Dies ist ein weiteres klares und deutliches Beispiel für die Stufe der Vorzüglichkeit und den Zustand der Wachsamkeit.

Die Freuden des Gebets zu erleben, ohne jemals dabei zu ermüden, ist nur demjenigen möglich, der die Stufe der Vorzüglichkeit erreicht hat. Derjenige hingegen, dessen Herz nicht von Ihsān erfüllt ist, wird im Gebet schnell müde und es fällt ihm schwer zu beten. Wenn ein solcher Mensch wohlhabend ist, werden ihm auch das Entrichten der Pflichtabgabe [zakāt] und das Geben von Spenden [sadaqa] schwer fallen. Denn derjenige, der fern der Empfindung göttlicher Nähe lebt, kann nichts von der Süße des Glaubens schmecken.

Aus diesen Beispielen können wir schließen, dass voller Aufrichtigkeit verrichtete Gebete, von Herzen gegebene Spenden, freudig vollführtes Fasten und eine voller Liebe durchgeführte Pilgerfahrt, allesamt Folgen dieses als Ihsān bezeichneten Zustandes der Vorzüglichkeit sind.

Sich in diesem Zustand der Vorzüglichkeit und Wachsamkeit zu befinden, ist nur durch Gottesgedenken möglich. Denn es ist das Gedenken Allāhs, welches den Verstand und das Herz mit Allāh verbindet und die Erkenntnisfähigkeit stärkt. Aus diesem Grund sprach Allāh, der Erhabene, als er Mūsā und dessen Bruder Hārūn – auf ihnen beiden sei Friede – zu Fir‘aun [Pharao] sandte, zu Mūsā:

{Geh du und dein Bruder mit Meinen Zeichen hin; und lasst nicht nach in Meinem Gedenken!} (20:42)

Viele Verse im Edlen Qur’ān fordern zum Gedenken Allāhs auf, doch der folgende Vers allein sollte schon ausreichen, um die Wichtigkeit des Gottesgedenkens zu erkennen. Das Gedenken Allāhs ist die Politur des Herzens und das Rezept zur Erlangung inneren Friedens, wie Allāh, der Erhabene, es verkündet, wenn Er sagt:

{Fürwahr, im Gedenken Allāhs finden die Herzen Frieden.} (13:28)

Ein Herz, das im Gedenken Allāhs Frieden gefunden hat, wird zu einem Ort, an dem sich der göttliche Blick manifestiert. Ein solches Herz ist sich der Geheimnisse bewusst, die in dem Vers zum Ausdruck kommen:

{An jenem Ta­ge werden weder Besitz noch Nachkommen nützen, sondern nur, wenn je­mand mit einem reinen Herzen erscheint.} (26:88-89)

Diesen Rang zu erreichen, verlangt jedoch, dass man die Barrieren des Egos überwindet, und durch Gedenken Allāhs, aufrichtige Reue, fromme Weltentsagung, Gottvertrauen, Genügsamkeit, Geduld, Wachsamkeit und ähnliche Zustände und Erfahrungen zur Vervollkommnung des Herzens heranreift.

Zusammenfassend können wir die Religion im Allgemeinen in zwei grundlegende Aspekte einteilen: Rechtliche Aspekte, welche die Säulen des Gebäudes darstellen, und Aspekte der Gottesfurcht [taqwā], welche die Zierde der Säulen ausmachen. Tasawwuf bringt diese beiden Aspekte zusammen, erklärt in verständlicher Weise das Leben, den Menschen und das Universum, sowie die Weisheit, die den verschiedenen Pflichten zugrunde liegt, und bewirkt so ein tiefer gehendes Verständnis. Tasawwuf bedeutet, einen Islam zu leben, der von Vorzüglichkeit und Wachsamkeit, sowie von Maßstäben wie Aufrichtigkeit, Weltverzicht, Gottesfurcht, Hingabe und Liebe geprägt ist. Nach einer anderen Definition bedeutet Tasawwuf, das 23 Jahre dauernde Propheten­tum des ehrwürdigen Gesandten Allāhs – Segen und Friede seien auf ihm – nachzuempfinden; sowie im Besonderen jenes, sein erhabenes Leben resümierendes Jibrīl-Hadīth, in dem Glaube [īmān] und Vorzüglichkeit [ihsān] definiert werden, in unserem Leben widerzuspiegeln. Tasawwuf bedeutet darüber hinaus, wie schon erwähnt, gemäß den Geboten zu handeln, die Allāh den Gläubigen durch die Person Seines Gesandten – Allāhs Segen und Friede seien auf ihm – verkündet hat, so wie es in dem Qur’ānvers heißt: {So halte fest an rechtschaffener Beharrlichkeit, wie es dir aufge­tra­gen ward!} (11:112)

Wie schon oben erwähnt, war es eben dieser Vers, der die Haare des Propheten ergrauen ließ. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Gesandte Allāhs – Segen und Friede seien auf ihm – in der 23 Jahre dauernden Zeitspanne seines Lebens als Prophet an vielen Kriegen teilnahm und oft tagelang hungerte. Er verlor seine Ehefrau Khadīja und seinen Onkel Hamza, der ihn vor der Verfolgung durch die Götzenanbeter beschützt hatte, und von seinen sechs Kindern starben fünf zu seinen Lebzeiten. All dies ertrug er zufrieden und in vollkommen demütiger Unterwerfung. Doch die Qur’ānsure Hūd, die den Vers {So halte fest an rechtschaffener Beharrlichkeit, wie es dir aufge­tra­gen ward!} enthält, war das, was ihn nach sei­nen eigenen Worten altern ließ.[3]

Der Weg zu Allāh ist lang und schmal und voller Prüfungen und Versuchungen. Er bringt so viele Verantwortungen mit sich, dass darüber selbst ein Prophet ergraute. Die Gottesfreunde gestehen, angesichts der endlosen Manifestationen des Göttlichen, ihre Unfähigkeit ein, wirklich vollkommene Diener Allāhs zu sein, indem sie mit den Worten Seines ehrwürdigen Gesandten – Segen und Friede seien auf ihm – sagen: „O Herr, wir sind unfähig Dich in der Weise zu erkennen, wie es Dir gebührt, dass wir Dich erkennen…[4]

Angesichts dieser Tatsache sollten wir in Bezug auf die Stufe der Vorzüglichkeit [ihsān] und den Zustand der Wachsamkeit [murāqaba] einmal über uns selbst nachdenken. Wenn wir dann erkannt haben, dass Allāh in jedem einzelnen Augenblick über uns wacht, sollten wir uns dem Beispiel Seines Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – folgend, der die vollkommenste Verkörperung dieser Eigenschaften war, daran machen, rechtschaffene Be­harr­lichkeit zu verwirklichen. Doch wie groß war seine Standhaftigkeit und Geduld? Und wie groß die unsere? Wie großzügig und loyal war er? Und wie großzügig und loyal können wir sein? Wie waren seine Gebete, sein Fasten, seine Pilgerfahrt, seine Abgaben und Spenden, sein Glaubensbekenntnis? Und wie sind die unseren? Wie engagiert war er im Dienste auf dem Weg Allāhs? Und wie engagiert sind wir? All diesen Fragen sollten wir uns ernsthaft stellen!

Kurz gesagt, sollten wir unsere Lebensführung im Lichte all dieser vergleichenden Gegenüberstellungen zum Leben des Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – organisieren, denn er ist das beste Vorbild an Rechtschaffenheit für die Menschheit bis zum Jüngsten Tag. Und er ist unser wichtigster Zeuge und Fürsprecher, im Diesseits und im Jenseits. Um wirklich den Zustand der Vorzüglichkeit und Wachsamkeit zu erreichen, sollten wir uns vorbereiten, indem wir unser Ego [nafs] läutern und unser Herz reinigen, gemäß den Worten Allāhs, des Erhabenen:

{In der Tat erfolgreich ist der, der es (das Ego) läutert!} (91:9)

Dabei sollten die folgenden Punkte sorgfältig beachtet und umgesetzt werden:

– gewissenhaft auf rechtmäßiges Einkommen achten,

– die Rechte der Menschen und anderer Geschöpfe Allāhs achten,

– die Zeit vor der Morgendämmerung [sahar] mit Gottesdienst verbringen,

– das tun, was Allāh geboten hat und das unterlassen, was Er verboten hat,

– Verantwortung im sozialen Bereich übernehmen,

– um Allāhs willen wohltätig sein,

– das Zusammensein mit den Rechtschaffenen pflegen,

– sich vom Qur’ān anrühren lassen und im Dienste des Qur’ān aktiv sein,

– das Gedenken Allāhs im Herzen verankern,

– sich von schlechten Charaktereigenschaften (wie übler Nachrede, Egoismus, Verschwendungssucht, Lügen, Neid, falschem Ehrgeiz, Augendienerei, Machtstreben und dergleichen mehr) fern halten, und

– das Denken an den Tod und das Atmen im Bewusstsein der Gegenwart Allāhs – bis zu unserem letzten Atemzug.

Zweifelsohne ist der Prophet Muhammad – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – das beste Vorbild für uns, wie wir im Zustand der Vorzüglichkeit und Wachsamkeit leben können. An zweiter Stelle, nach ihm, folgen seine Erben, die Gottesfreunde, deren Leben in dieser Hinsicht ebenfalls als Richtschnur dienen kann.

Scheikh Mahmud Sami Ramazanoğlu, der uns vor mittlerweile über zwanzig Jahren verlassen hat, war eines der denkwürdigsten Beispiele dafür.[5] Er führte ein Leben, das durch und durch von der Zierde dieses Zustandes von Ihsān und Murāqaba geprägt war; und er übertrug dieses Licht auch auf seine Schüler.

Wir gedenken seiner und bitten Allāh, den Erhabenen, um Seine Barmherzigkeit und Gnade für ihn!

Möge Allāh uns dabei helfen, ein Leben im Zustand der Vorzüglichkeit und Wachsamkeit zu führen!

Āmīn!

 

[1] Der Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – definierte den Begriff Ihsān mit den Worten: „Es bedeutet, Allāh so zu dienen, als würdest du Ihn sehen; und auch wenn du Ihn nicht siehst, sieht Er dich doch gewiss.“ (Überliefert in Sahīh al-Bukhārī und Sahīh Muslim)

[2] Überliefert von al-Tirmidhī in al-Zuhd.

[3] Überliefert von al-Tirmidhī in seinem Sunan.

[4] Überliefert in al-Munāwīs Fayd al-Qadīr, Bd. II, 520.

[5] Eine vom Vater des Autors, Scheikh Musa Topbaş Efendi, verfasste Biographie Scheikh Mahmud Sami Ramazanoğlus liegt seit 2008 in einer vom Erkam Verlag herausgegebenen deutschen Über­setzung unter dem Titel Sultān al-‘Ārifīn – Scheikh Mahmud Sami Ramazanoğlu vor.