Die Bedeutung der Pilgerfahrt (Hajj)

Darin sind deutliche Zeichen - die Stätte Ibrahims. Und wer es betritt, ist sicher. Und der Menschen Pflicht gegenüber Allah ist die Pilgerfahrt zum Hause (Allahs), für den, der dazu in der Lage ist. Wer aber ungläubig ist - wahrlich, Allah ist nicht auf die Welten angewiesen.“, (3:97)

Die Hajj ist einer der fünf Grundpfeiler des Islam und eine Art des Gottesdienstes, die zu Zeiten aller Propheten, angefangen von Adam bis zum Siegel der Propheten Muhammad – Allah segne sie allesamt und schenke ihnen Frieden –, die Herzen der Gläubigen erweckt und belebt hat. Die Pilgerfahrt ist eine erhabene Pflicht, die uns in subtiler Weise das Geheimnis der Worte „Stirb bevor du stirbst!“ erfahren lässt.

Die Hajj ist keineswegs eine Erfindung des Islam. Schon seit langer Zeit pilgerten die Menschen nach Mekka. Jedoch hatten die Araber zu Zeiten der Götzenanbetung diese Pilgerfahrt zu einer recht unmoralischen Zeremonie verkommen lassen. Die Angehörigen des Stammes der Quraysch, die selbst in Mekka ansässig waren, pflegten ihren Gottesdienst an der Ka´ba in ihren gewöhnlichen Kleidern zu verrichten. Die anderen, von außerhalb kommenden Stämme jedoch, waren verpflichtet, ihre durch Sünden verunreinigte Kleidung beim Betreten des Heiligtums abzulegen und entweder von den Quraysch ‚reine’ Kleidung zu erwerben oder, egal ob Mann oder Frau, die Ka´ba nackt zu umrunden. Darüber hinaus pflegten sie, direkt am Heiligtum, Tiere zu opfern, die Tür und Wände der Ka´ba mit deren Blut zu beschmieren und anschließend das Fleisch, anstatt es nützlichen Zwecken zuzuführen, zu verbrennen. Erst der Islam machte diesen pervertierten Pilger-Riten und vielen anderen, von den Arabern eingeführten Arten des Aberglaubens, ein Ende. Im Islam ist das Hauptziel einer jeden Form von Gottesdienst das Gedenken Allahs, die Bitte um Seine Vergebung und Sein Lobpreis. Indem er die von den arabischen Stämmen eingeführten abergläubischen Praktiken beendete, belebte der Islam die Pilgerfahrt wieder in ihrer ursprünglichen, reinen Form.

Die Hajj beinhaltet für die Gläubigen eine Vielzahl nützlicher Aspekte, sowohl im Hinblick auf das Diesseits als auch auf das ewige Leben im Jenseits. An den Heiligen Stätten manifestiert sich während der Zeit der Pilgerfahrt die grenzenlose Barmherzigkeit Allahs. Umgeben von der Gnade und Vergebung Allahs des Allmächtigen begegnen die Muslime einander in einer Atmosphäre von Liebe und Respekt und knüpfen Bande des Vertrauens und der Brüderlichkeit.

Während der Hajj können wir, am Beispiel der Propheten Ibrahim und Ismâ´îl – auf ihnen sei der Friede Allahs –, vollkommene Hingabe und grenzenloses Vertrauen in Allah erlernen. Wie im heiligen Qur’ân berichtet wird, ergab sich Ibrahim – Friede sei mit ihm –, als er den göttlichen Befehl erhielt, seinen Sohn zu opfern, ganz dem Willen Allahs. Und in ebensolcher Weise steinigte Ismâ´îl – Friede sei mit ihm – Schaytân, als dieser versuchte, ihn zur Rebellion gegen seinen Vater aufzuhetzen und ihm einflüsterte, er solle vor der Opferung davonlaufen. So wie Ismâ´îl – Friede sei mit ihm – Schaytân mit Steinwürfen verjagte, sollten wir unser Ego und unsere niederen Begierden steinigen.

Die Hajj ist zugleich eine riesige Versammlung von Menschen unterschiedlicher Nationalität, Rasse und Hautfarbe und erinnert damit an den Tag des Jüngsten Gerichts, an dem alle, ungeachtet ihrer Herkunft oder Hautfarbe, vor dem göttlichen Gerichtshof zusammengerufen werden. Diese furchterregende Szene wird alle Barrieren von Rasse oder Nationalität niederreissen und die gesamte Menschheit zu Brüdern und Schwestern machen, wobei das Band des Glaubens die Menschen stärker als alle anderen Bande miteinander verbinden wird.

Während der Riten der Hajj tragen die Pilger, anstelle ihrer gewöhnlichen Kleidung, weiße, ungesäumte Tücher. Dies symbolisiert die Trennung der Seele von den Gewändern des Egos und ihren Triumph über die Schwächen des Menschseins, die niederen Begierden.

Die Stätten der Pilgerfahrt nehmen einen ganz besonderen Platz im Leben der Muslime ein. Es sind heilige Orte, voll göttlicher Segnungen und spiritueller Bedeutung, geprägt von der tiefen Symbolik der Zeichen Allahs. An diesen Orten wird man ununterbrochen an die grenzenlose Gnade Allahs und Seine endlosen Segnungen erinnert. Der Qur’ân beschreibt die Atmosphäre der Heiligkeit dieser Plätze mit Worten wie ‚Zeichen Allahs’ und ‚heilige Stätten Allahs’.

Ein weiterer Sinn der Hajj besteht darin, dass die Pilger die Erfahrungen, die die Prophetengefährten mit dem Propheten – Allahs Segen und Friede seien auf ihm und all seinen Gefährten – durchlebten, an diesen heiligen Orten nachempfinden können. Diese Stätten, deren Boden getränkt ist von den Tränen derer, die Allah lieben, angefangen von Adam bis hin zu Muhammad – der Segen und Friede Allahs sei auf ihnen allen –, sind voll von zahllosen Erinnerungen an den Propheten Muhammad und seine Gefährten. Diejenigen, die aufmerksam die Pilgerfahrt vollführen, treten in der Tat in die Fußstapfen all dieser heiligen Menschen.

An den Heiligen Stätten erinnern wir uns der Bittgebete der früheren Propheten Allahs – der Friede sei auf ihnen allen –, darunter Ibrahim, der sagte:

... unser Herr, mach uns Dir ergeben und aus unserer Nachkommenschaft eine Gemeinde, die Dir ergeben ist. Und lehre uns unsere Riten und wende Dich uns in Deiner Gnade zu! Wahrlich, Du bist der sich in Gnade Zuwendende, der All-Barmherzige.“ (2:128)

In dieser Weise wiederholen wir dieselben Bittgebete, die sie gesprochen haben und erfahren so Allahs Segnungen durch die Erhörung unserer Bitten.

Die Muslime sind stets beseelt vom brennenden Wunsch, diese heiligen Orte zu besuchen. Die Dichter haben ihre schönsten Werke über diese Stätten geschrieben. Einer von ihnen singt, gerichtet an den kühlen Morgenhauch:

„O Morgenhauch, wenn Du das heilige Land erreichst,

überbringe meine Grüße dem Propheten der Menschen und Jinnen!“

Diejenigen, die nicht in der Lage waren, selbst zu diesen Stätten zu gelangen, baten den Wind, ihre Grüße zu überbringen und sie verabschiedeten und begleiteten die Pilger mit ihren besten Wünschen und Gebeten.

Und viele der Heiligen und Gottesfreunde, überwältigt von der Liebe und Sehnsucht nach diesen Orten, gelangten durch Wunder wie ‚Tayy al-Makân’[1] in einem Augenblick dorthin, um dort zu beten.

Manche der Gottesfreunde brachten sogar andere, die selbst nicht die Möglichkeit oder die Mittel hatten, zur Hajj zu gehen, auf wundersame Weise dorthin. Die folgende unter den Sufis wohlbekannte Geschichte berichtet, wie der berühmte Sufi-Meister ´Azîz Mahmûd Hudayî zum Sufitum kam:

Zu jener Zeit war ´Azîz Mahmûd Hudayî Richter in der Stadt Bursa, der früheren Hauptstadt des Osmanischen Reiches. Eines Tages hatte er einen ungewöhnlichen Fall zu entscheiden. Eine Frau kam zu ihm und klagte gegen ihren Ehemann auf Scheidung. Dabei trug sie dem Qâdî folgende Gründe vor:

„O ehrenwerter Qâdî! Mein Mann fasst jedes Jahr aufs Neue die Absicht, die Pilgerfahrt zu vollführen, doch aufgrund seiner Armut konnte er die Reise nie antreten und verschob sie immer wieder auf das nächste Jahr. Auch dieses Jahr hatte er wieder die feste Absicht gefasst, auf Hajj zu gehen und sogar gesagt: ‚Wenn ich dieses Jahr nicht auf Hajj gehe, werde ich die Scheidung aussprechen!’ Dann ist er plötzlich, kurz vor dem Opferfest, verschwunden und, als er nach fünf, sechs Tagen wiederkam, hat er behauptet, er sei bei der Hajj gewesen. Ist denn so etwas möglich? Qâdî Efendi, ich bitte Sie, mich von diesem Lügner zu scheiden!“

Um die Geschichte zu überprüfen, ordnete der Richter an, den Ehemann dem Gericht vorzuführen und befragte ihn, ob die Angaben seiner Ehefrau zuträfen oder nicht. Der Ehemann antwortete:

„Ehrenwehrter Herr Richter! Alles was meine Frau über mich gesagt hat, entspricht der Wahrheit. Ich bin tatsächlich auf Pilgerfahrt gegangen. Ich habe dort sogar einige andere Pilger aus Bursa getroffen und ihnen ein paar meiner Sachen anvertraut, damit sie sie auf dem Rückweg mit nach Hause bringen.“

Der Qâdî war äußerst erstaunt über diese Aussagen, denn zu jener Zeit war dies, selbst mit den schnellsten Transportmitteln, eine lange Reise, die Monate dauerte. Deshalb fragte er den Mann:

„Wie ist es denn möglich, dass du in weniger als einer Woche auf Pilgerfahrt gegangen und wieder zurückgekommen bist?“

Der Mann antwortete: „O mein Herr, ich war sehr betrübt, auch dieses Jahr wieder nicht zur Pilgerfahrt gehen zu können, also ging ich und besuchte einen der Gottesfreunde namens Mehmed Efendi und erzählte ihm von meinem Leid. Er hörte mich an und sagte dann zu mir, ich solle meine Augen schließen. Und als ich sie wieder öffnete, fand ich mich an der Ka´ba wieder.“

Der Qâdî, der in seinem ganzen Leben noch nie solch eine merkwürdige Geschichte gehört hatte, konnte dem keinen Glauben schenken und akzeptierte die Aussagen des Mannes nicht.

Der Mann jedoch, noch immer unter dem Einfluss seines außergewöhnlichen Erlebnisses und erfüllt vom Segen seines Besuchs der Heiligen Stätten, fragte den Richter:

„O ehrenwehrter Qâdî! Schaytân, der Feind Allahs, kann doch innerhalb einer Sekunde von einem Ort der Erde zum anderen gelangen. Wieso glaubt ihr dann nicht, dass einer der Gottesfreunde innerhalb eines Augenblicks nach Mekka gelangen kann?“

Der Richter, ´Azîz Mahmûd Hudayî, dem diese Worte schließlich einleuchteten, vertagte die Sitzung bis zu dem Zeitpunkt, an dem alle Pilger von den Heiligen Stätten zurückgekehrt waren, um zu überprüfen, ob der Mann tatsächlich dort gewesen sei oder nicht. Als dann, nach vielen Wochen, die Pilger endlich zurückgekehrt waren, befragte er sie, ob dieser Mann mit ihnen an der Ka´ba gewesen sei und seine Pflicht der Pilgerfahrt erfüllt hätte. Zu seinem Erstaunen bestätigten sie, dass der Mann dagewesen sei. Der Richter lehnte demzufolge die Klage der Frau ab, da sich erwiesen hatte, dass ihr Mann kein Lügner war.

Nach diesem Ereignis suchte ´Azîz Mahmûd Hudayî den zu jener Zeit berühmten Mehmet Efendi auf und lernte durch ihn den Sufi-Meister Uftâda kennen, der zu seinem Lehrer auf dem spirituellen Weg wurde. Nachdem er seine Ausbildung bei diesem beendet hatte, erreichte ´Azîz Mahmûd Hudayî eine hohe Stufe auf dem geistigen Weg und wurde selbst zu einem der großen Sufi-Meister. Seine Grabstätte in Istanbul im Stadtteil Üsküdar wird auch heutzutage noch täglich von vielen Menschen besucht.

Bei der Pilgerfahrt ist es nicht Sinn der Sache, sich den Wüstensand anzuschauen, sondern die Stätten Ibrahims und der Nachkommen seines Sohnes Ismâ’îls zu besuchen. Man schaut die Orte an, an denen der Prophet – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden – geboren wurde, lebte und die Botschaft Allahs verkündete. Dem Gläubigen ist es ein unvergleichlicher Genuss, die Luft jener Orte zu atmen, an denen der Prophet – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden – sich aufgehalten hat, seinen Fußstapfen zu folgen und Allahs Zeichen anzuschauen, die im Qur’ân mit den Worten erwähnt werden:

Wahrlich, das erste Haus, das für die Menschen (zum Gottesdienst) errichtet wurde, ist das in Bekka, gesegnet und eine Leitung für die (Bewohner aller) Welten.“ (3:96)

Diejenigen, die mit den Augen ihres Herzens schauen, erkennen die Segnungen Allahs, so dass in ihren Adern die Liebe zu Ihm zirkuliert. Wo immer sie hinschauen, erblicken sie Seine Zeichen und erleben einen Zustand spiritueller Verzückung, in dem sie sich selbst verlieren. So gedenken sie ununterbrochen Allahs und rufen Seine Namen und lobpreisen Ihn. Sie verbringen ihre Zeit an diesen heiligen Stätten erfüllt von höchstem Respekt und größter Aufmerksamkeit gegenüber den göttlichen Zeichen, so wie es in den Worten des Qur’ân beschrieben wird:

... wahrlich ist es aus Gottesfürchtigkeit der Herzen heraus, wenn jemand die Zeichen Allahs respektiert.“ (22:32)

So ist die Hajj nicht nur ein physischer Akt, sondern vor allem eine spirituelle Form des Gottesdienstes. ‚Al-Hajj al-Mabrûr’, die von frommer Ehrerbietung geprägte und von Allah angenommene Pilgerfahrt, besteht, gemäß den Worten des Propheten – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden – von Anfang bis Ende aus guten und rechtschaffenen Handlungen, welche die Abkehr von Sünden, Bittgebete und Bitten um Vergebung beinhalten, die allesamt die höchsten Formen von Gottesdienst darstellen. Der Pilger verspricht Allah zugleich, auch nach seiner Rückkehr diesen hohen Standard an Moralität und Gottesdienst aufrecht zu erhalten. Das Bittgebet, das Ibrahim – Friede sei mit ihm – beim Errichten der Ka´ba sprach, ist dabei eine Richtschnur, wie und worum wir an diesen heiligen Stätten beten sollten:

... unser Herr, mach uns Dir ergeben und aus unserer Nachkommenschaft eine Gemeinde, die Dir ergeben ist. Und lehre uns unsere Riten und wende Dich uns in Deiner Gnade zu! Wahrlich, Du bist der sich in Gnade Zuwendende, der All-Barmherzige.“ (2:128)

Die Muslime, deren Herzen ganz von Liebe zu Allah erfüllt sind, spüren während der Pilgerfahrt, dass sie auf den selben Pfaden wandeln, auf denen einst ihr geliebter Prophet – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden – schritt, und werden dabei aufgeregt vor Freude und ganz ergriffen vor Begeisterung. So stellen sie sich zum Beispiel beim Besteigen des Felsens von Safâ vor, wie einst der Prophet – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden –, auf diesem Hügel stehend, zu den Menschen predigte und sie zum Islam einlud. Von diesem Felsen aus sprach er, der Beste der Geschöpfe, zu den Mekkanern und sagte:

„Wenn ich euch erzählen würde, dass sich von hinter diesem Felsen her ein Feind nähert, um euch anzugreifen, damit ihr eure Vorkehrungen treffen könntet, um ihn abzuwehren, würdet ihr mir glauben?“

Die Mekkaner antworteten ihm: „Wir glauben dir, auch wenn wir selbst nicht sehen können, was hinter diesem Hügel ist. Weil Du Muhammad al-Amîn (der Vertrauenswürdige) bist, haben wir an deinen Worten keinen Zweifel.“

Daraufhin sagte der Prophet – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden:

„Glaubt ihr mir dann, so wie ihr mir diese Nachricht glauben würdet, auch, dass es nur einen Gott gibt, der diese Welt erschaffen hat? Die Götzen, die ihr anbetet, sind nichts als Steine, Erde oder Holz. Lasst diese Götzen und glaubt an Allah, den Einen! Und wisset, dass Allah mich als Seinen Propheten zu euch gesandt hat.“

Als sie diese Worte der Einladung zur göttlichen Botschaft vernahmen, erwiderte sein Onkel Abû Lahab im Namen der Ungläubigen:

„Ist es etwa das, weshalb du uns hier zusammengerufen hast?“

Und sie gingen ohne weitere Worte und ließen den Propheten – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden – zurück, ohne seinem Ruf zu folgen, obwohl sie seine Wahrhaftigkeit und Vertrauenswürdigkeit bestätigt hatten. Sie zogen es vor, ihren niederen Wünschen und den Irrwegen ihrer Vorväter zu folgen.

Doch der Prophet – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden – gab, trotz ihrer feindseligen Haltung, niemals auf und mühte sich darum, der Menschheit die göttliche Wahrheit zu überbringen, wie Einer, der Verdurstenden lebenspendendes Wasser bringt. Während der Pilgerfahrt bietet sich uns die Gelegenheit, über all die vielen mutigen Bemühungen und Taten des Propheten – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden – nachzudenken.

In Mekka können wir den Widerhall der qur’ânischen Unterweisungen des Propheten – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden – im Dâru l-Arqam vernehmen, dem Hause des Gefährten Arqam, wo sich die ersten Muslime heimlich versammelten, um die Offenbarung aus dem Munde des Propheten – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden – zu vernehmen. Und in Medina können wir unsere Becher hinhalten, auf dass sie gefüllt werden mit dem überall reichlich strömenden Segen des Propheten und seiner Gefährten – Segen und Friede Allahs seien auf ihm und ihnen –, den sie bei ihrer Auswanderung dorthin mitbrachten. Wenn wir die Höhle von Thaur besuchen, nehmen wir Teil an dem Erlebnis der drei Nächte höchster spiritueller Erfahrung, die der Prophet dort mit seinem engsten Gefährten Abû Bakr – Allah segne sie beide und schenke ihnen Frieden – verbrachte. Diese spirituelle Zusammenkunft des Propheten mit Abû Bakr – Allahs Segen sei auf ihnen – in der Höhle ist der Entstehungspunkt der Goldenen Kette des Naqschbandî-Ordens. In dieser Höhle können wir die Süße des Glaubens in Liebe und Verzückung schmecken. In Medina gedenken wir der Zeiten und Erlebnisse, die der Prophet – Allahs Segen und Frieden seien auf ihm und all seinen Gefährten – dort mit all seinen Getreuen durchlebte. Und wenn wir dann nach Mekka zurückkehren, stellen wir uns vor, wie es bei der Einnahme Mekkas durch den Propheten – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden – gewesen sein muss. Beim Blick auf die Berge um Mekka können wir uns vor Augen führen, wie die Gefährten auf jedem der Berge ein Feuer entzündeten, um den Mekkanern vor der Einnahme der Stadt Furcht einzuflößen. Und wir können lauschen, um Bilâl – möge Allah mit ihm zufrieden sein – zuzuhören, wie er nach der Einnahme Mekkas zum ersten Mal an der heiligen Ka´ba den Adhân rief. Und wir können die Worte des Propheten – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden – hören, wie er den Vers rezitierte:

„Die Wahrheit ist gekommen und die Falschheit ist zunichte geworden.

Wahrlich, die Falschheit ist dazu bestimmt, zunichte zu werden.“ (17:81)

Nachdem wir uns all diese äußeren Ereignisse vergegenwärtigt haben, können wir in unseren Herzen die innere Bedeutung dazu in Beziehung setzen. Wir können sehen, wie die Ka´ba unseres Herzens von den Götzen unseres Egos und unserer niederen Wünsche verunreinigt ist und mit Hilfe der spirituellen Kraft, die uns während der Tage der Pilgerfahrt zukommt, versuchen, diese Götzen umzustürzen und so unser Herz zu reinigen, bis es nur noch für Allah alleine da ist. In dieser Weise verwandeln wir unser Herz in einen Schauplatz von Erscheinungen des Göttlichen. Für jeden Gläubigen, ob schwach oder stark in seinem Glauben, bietet die Hajj einen reichen Schatz an Gotteserfahrungen, entsprechend der jeweiligen Wahrnehmungsfähigkeit. Deshalb ist die Pilgerfahrt eine höchst vielseitige und vielschichtige Form des Gottesdienstes, die den Muslimen gewaltigen spirituellen Nutzen bringt. Durch die Hajj setzt sich der Gläubige dem Regen göttlicher Segnungen aus und befreit sich von den Fesseln seines Nafs, des Egos, das ihn stets beherrschen will.

Auf der Ebene von Arafât versammeln sich die Muslime zu Hunderttausenden, um ihren Herrn anzurufen und Seinen Segen und Seine Vergebung zu erbitten. Diese gewaltige Versammlung erinnert an den Tag der Auferstehung, an dem alle Menschen in der Gegenwart ihres Schöpfers zusammengerufen werden. An diesem Tag sind alle gleich, gekleidet in die gleichen Gewänder, hilflos, bedürftig und angewiesen auf die Gnade und Barmherzigkeit Allahs. Es ist wie ein Training für das Jenseits in dieser Welt und der Beginn der Vorbereitungen für jenen Tag. Die Muslime wenden sich in der größtmöglichen Aufrichtigkeit an Allah und bitten um Vergebung ihrer Sünden. Mit dem Versprechen, ein Leben in Gehorsam und Hingabe an Allah zu führen, öffnen sie für den Rest ihres Lebens neue, reine Seiten im Buche ihrer Taten.

Arafât ist wie eine kleine Widerspiegelung des Tages der Auferstehung: die Männer stehen mit entblößtem Haupt und Füßen, nur mit zwei Stofftüchern bekleidet, da. Keiner hat das Bedürfnis umherzuschauen, weil jeder nur mit seinem eigenen Schicksal beschäftigt ist. Arafât ist ein Ort der Bitten um Vergebung und des Suchens nach Zuflucht.

Das Zusammenkommen in Gruppen, um sich auf der Ebene von Arafât zu versammeln, ist ein Ritual, das, so alt wie die Menschheit selbst, in den Muslimen tief verborgene Erinnerungen weckt. Die ersten Menschen, unser Vorvater Adam und seine Ehefrau Hawâ (Eva) – Friede sei mit ihnen – waren, nachdem sie von den Früchten des verbotenen Baumes gegessen hatten, an verschiedene Enden der Erde verbannt worden. Adam – auf ihm sei Friede – bat Allah um Muhammads willen um Vergebung, in dem Wissen, dass dieser eine erhabene Stellung in der göttlichen Gegenwart inne hat – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden. Allah nahm Adams Bitten um Vergebung an und verzieh ihnen. Ein von Allah gesandter Engel geleitete Adam dann nach Mekka, während Hawâ, die in der Gegend von Jiddah gelandet war, ebenfalls aufgrund der Segnungen des angenommenen Bittgebets, von einem anderen Engel dorthin geführt wurde. Am Nachmittag des Tages von Arafât begegneten sie einander wieder auf der Arafât-Ebene und beteten gemeinsam unter Tränen um Vergebung ihrer Sünden.

In Seiner endlosen Barmherzigkeit und Liebe zur Menschheit akzeptierte Allah ihre Gebete und erlaubte ihren Nachkommen, sich jedes Jahr, bis hin zum Tage des Gerichts, zur selben Zeit an eben diesem Ort zu versammeln, um Allah anzurufen und zu bitten. Und Allah der Allmächtige versprach vollkommene Vergebung und Erlösung all denjenigen, die dort zur gleichen Zeit, in den Fußstapfen Adams – Friede sei mit ihm –, um göttliche Vergebung bitten.

Nachdem sie so glücklich wiedervereint waren, befahl Allah den beiden, sich in Mekka niederzulassen. In Erinnerung daran wird Mekka auch als ‚Umm al-Qurâ’, das heißt ‚Mutter der Städte’, bezeichnet.

Vor diesem Hintergrund fällt es nicht schwer, in den Riten der Pilgerfahrt die universellen Aspekte des Islam zu entdecken. In Mekka werden alle Menschen, ungeachtet ihrer Herkunft, Hautfarbe oder sozialen Stellung, im Gedenken daran, dass sie alle von einem Vater und einer Mutter abstammen, zu Brüdern und Schwestern. Dort stehen sie alle, Reiche und Arme, Herrscher und Untertanen, Gebildete und Analphabeten, auf der gleichen Ebene, gekleidet in zwei weiße Tücher. Trotz all der vielen politischen und sozialen Probleme in den Ländern des Islam ist die Atmosphäre des Friedens und der Brüderlichkeit an diesen heiligen Stätten überwältigend. Die Pilger erleben Höhepunkte der Opferbereitschaft und Menschenliebe, die allen Nationen der Welt als Beispiel dienen könnten. Viele der großen internationalen Institutionen und Organisationen können von einem derartigen Engagement in Nächstenliebe nur träumen. Wir wagen sogar, zu behaupten, dass keine andere Glaubensrichtung oder Ideologie jemals derart erfolgreich darin war, die unterschiedlichsten Rassen und Nationen zu vereinen. Der Grund dafür ist, dass Brüderlichkeit im Islam nicht auf materiellen Vorteilen, sondern auf Spiritualität und Glaubensüberzeugung beruht. Jede andere Form mitmenschlicher Solidarität und Brüderlichkeit wird, früher oder später, am Machthunger und Besitzstreben der Menschen scheitern. Nur wenn die Seelen zur Opferbereitschaft und Nächstenliebe erzogen werden, kann wahre Brüderlichkeit entstehen.

Das Tal von Muzdalifah, im heiligen Qur’ân erwähnt als ‚Masch´aru l-harâm’, als ‚heilige Wegstätte’, ist ein Platz voller Manifestationen göttlicher Liebe und Barmherzigkeit. An diesem Ort sollten die Herzen alles vergessen, außer der Allmacht und erhabenen Herrschaft ihres Herrn, um sich so ganz den Erfahrungen göttlichen Segens hinzugeben.

Am Tag nach der Versammlung von Arafât opfern die Pilger im Gedenken an das Opfer Ibrahims – Friede sei mit ihm – im Namen Allahs ihre Opfertiere. Und durch dies Opfer in der Nachfolge Ibrahims – auf ihm sei der Friede Allahs – erfahren sie seine spirituelle Stufe. Diejenigen, die diese Segnung erleben und den Windhauch Ibrahims herüber wehen spüren, rezitieren, wie von selbst, die Worte des heiligen Qur’ân, die tatsächlich das Bekenntnis Ibrahims – Friede sei mit ihm – sind:

„Wahrlich, ich habe mein Angesicht in Aufrichtigkeit Dem zugewandt, der die Himmel und die Erde schuf, und ich gehöre nicht zu den Götzendienern.” (6:79)

Sprich: ‚Wahrlich, mein Gebet und mein Opfer und mein Leben und mein Tod gehören Allah, dem Herrn der Welten, der keinen Partner hat. Und so wurde es mir geboten und ich bin der Erste der Gottergebenen.’” (6:162-163)

Und als er von Babylon aus in Richtung Syrien aufbrach, sagte der Prophet Ibrahim – der Friede Allahs sei auf ihm:

„Seht, ich gehe zu meinem Herrn, Er wird mich rechtleiten. O Mein Herr, gewähre mir einen rechtschaffenen (Nachkommen)’” (37:99-100)

Dieser Vers deutet darauf hin, dass es gilt, eine Reise zu unternehmen, die vom eigenen Herzen zu Allah, dem besten Freund und Sachwalter, führt. Und der Qur’ân berichtet davon, wie Ibrahims Bitte angenommen wurde:

Da verkündeten Wir ihm einen sanftmütigen Sohn. Als dieser alt genug war, um mit ihm zu laufen, sagte er:

‚O mein Sohn, ich sehe im Traum, dass ich dich opfere, schau, was du dazu meinst?’

Er sagte: ‚O mein Vater, tu, wie dir befohlen wurde! Du wirst mich - so Allah will - unter den Geduldigen finden.’

Als sie sich beide (Allahs Willen) ergeben hatten und er ihn mit der Stirn auf den Boden hingelegt hatte, riefen Wir ihm zu:

Ibrahim, du hast bereits das Traumgesicht erfüllt.’

So belohnen Wir die, die Gutes tun. Wahrlich, dies war offensichtlich eine schwere Prüfung. Und Wir lösten ihn durch ein gewaltiges Schlachtopfer aus. Und Wir bewahrten sein Andenken unter den künftigen Geschlechtern. Friede sei auf Ibrahim! Derart belohnen Wir die, die Gutes tun. Wahrlich, Er gehört zu Unseren gläubigen Dienern.” (37:101-111)

Entsprechend einem göttlichen Befehl war Ibrahim – Allahs Friede sei auf ihm und seiner Familie – mit seiner Frau Hâjar und ihrem Sohn Ismâ´îl nach Mekka gezogen, hatte die beiden dort gelassen und war zu seiner ersten Frau Sarah zurückgekehrt. Von Zeit zu Zeit kam er nach Mekka, um Hâjar und seinen Sohn zu besuchen. Während eines dieser Besuche hatte er einen Traum, in dem ihm befohlen wurde, seinen Sohn Ismâ´îl zu opfern. Zuerst war er sich nicht sicher, ob es sich um eine göttliche Eingebung oder um eine Versuchung Schaytâns handelte. Nachdem er aber dreimal denselben Traum gehabt hatte, gab es für ihn keinen Zweifel mehr daran, dass diese Vision göttlichen Ursprungs war. Zweimal hatte er den Traum in den beiden Tagen vor dem Zeitpunkt des jetzigen Opferfestes gehabt, das dritte Mal an dem Tag, der heutzutage der erste des Opferfestes ist.

Einigen Quellen zufolge befahl Allah der Allmächtige Ibrahim – Friede sei mit ihm –, seinen Sohn zu opfern, weil er gelobt hatte, dass er, wenn ihm ein Sohn geschenkt würde, diesen für Allah opfern würde. So prüfte Allah ihn, ob er sein Versprechen halten würde. Ibrahim, der bereit war, sein Wort zu halten, bat Hâjar, den Jungen zu waschen und mit Moschus zu parfümieren. Dann erzählte er Hâjar, dass er mit ihm zu ‚einem Freund’ gehen wolle und forderte Ismâ´îl auf, er solle ein Messer sowie ein Seil mitnehmen und sagte zu ihm:

„O mein Sohn, Ich werde Allah ein Opfer darbringen.“

So machten sie sich auf in Richtung des Ortes, an dem sich die Pilger am Tage von Arafât versammeln.

Schaytân lag auf der Lauer und wartete auf die passende Gelegenheit, sich einzumischen. Als Ibrahim und Ismâ´îl – der Friede Allahs sei auf ihnen – gegangen waren, wandte er sich in Gestalt eines Mannes an Hâjar und sagte:

„Weißt du, wo Ibrahim deinen Sohn hinbringt?“

„Zu seinem Freund“, antwortete sie.

„Nein, er wird ihn schlachten!“, widersprach ihr Schaytân.

Hâjar antwortete: „Das kann nicht sein, denn er liebt seinen Sohn über alles.“

Schaytân erklärte ihr: „Er wird ihn schlachten, weil Allah es ihm befohlen hat.“

Doch Hâjar bewies ihr unendliches Vertrauen in Allah, indem sie sagte:

„Wenn Allah es befohlen hat, dann ist es gut so, denn wir vertrauen ganz auf Ihn!“

Nachdem er so erfolglos Hâjar geprüft hatte, beeilte er sich nun, um Ismâ´îl zu versuchen. Er fragte ihn die gleichen Dinge:

„Weißt du, wohin dein Vater dich bringen will?“

Ismâ´îl – Friede sei mit ihm – antwortete: „Den Befehl Allahs zu erfüllen.“

Schaytân versuchte, ihn zu provozieren und sagte: „Dann weißt du wohl auch, dass Dein Vater dich schlachten will!“

Als er dies hörte, beschimpfte Ismâ´îl Schaytân und rief: „Verschwinde dahin, wo du hin gehörst, Verfluchter! Wir folgen den Geboten unseres Herrn von ganzem Herzen!“

Dabei bewarf er ihn mit Steinen.

Da versuchte Schaytân Ibrahim – Friede sei mit ihm – und sagte:

„Alter Mann, wo bringst du deinen Sohn denn hin? Bestimmt hat Schaytân dir im Traume etwas eingeflüstert. Das ist bestimmt kein göttlicher Befehl sondern eine Versuchung Schaytâns.“

Da sagte Ibrahim: „Du bist Schaytân! Weiche augenblicklich von mir!“

Er hob sieben Steine auf und steinigte Schaytân an drei verschiedenen Plätzen.

So geht die Tradition, Schaytân zu steinigen, auf unseren Vorvater Ibrahim – Allah schenke ihm Frieden – zurück und wird als einer der Haupt-Riten der Pilgerfahrt jedes Jahr im Gedenken an ihn von allen Pilgern wiederholt. Diese, mit dem beispiellosen Opfer Ibrahims – Friede sei mit ihm – verbundenen Begebenheiten werden so im Islam bis ans Ende aller Zeiten in einer symbolischen Fortsetzung als Bestandteile der Hajj gewürdigt.

Als die beiden dann auf dem Weg von Minâ nach Arafât waren, wurden die Engel im Himmel immer aufgeregter und sagten zueinander:

„Lobpreis sei Allah! (Wie wundersam!) Ein Prophet bringt einen anderen Propheten, um ihn zu opfern!“

Ibrahim erklärte Ismâ´îl – Allahs Friede sei auf ihnen beiden – die Bedeutung ihres Ausfluges und den Befehl Allahs, indem er sagte:

„O mein Sohn! In einer Vision ist mir befohlen worden, dich Allah zu opfern.“

Ismâ´îl – Friede sei mit ihm – fragte: „O mein Vater, ist es Allah, der dir befohlen hat, mich zu opfern?“

Als Ibrahim dies bestätigte, antwortete Ismâ´îl – Allahs Friede sei auf ihnen beiden:

„Vater, tu was dir befohlen wurde. So Allah will, wirst du mich geduldig finden!“

Derart bewies er, dass er freudig bereit war, sein Leben zu opfern, um den Befehl Allahs zu erfüllen.

Wie berichtet wird, wurde der Erzengel Jibrîl, als er sah, wie Ibrahim das Messer an die Kehle seines Sohnes Ismâ´îl – Allahs Friede sei auf ihnen beiden – setzte und daran erkannte, wie ernst die Situation war, von solcher Unruhe und Sorge ergriffen wie nie zuvor. Er machte als erstes die Schneide des Messers so stumpf, dass man damit nicht mehr schneiden konnte. Doch in diesem Moment, als deutlich wurde, dass Ibrahim sogar bereit war, seinen heißgeliebten Sohn zu opfern, zeigte sich die Barmherzigkeit Allahs und Seine Hilfe trat in Erscheinung. Als Ersatz-Opfer sandte Er aus dem Paradies einen Hammel herab, den beide gemeinsam Allah opferten. Und sie lobpriesen Allah für Seine unendliche Gnade.

Diese Ereignisse sollten wir uns ins Gedächtnis rufen, wenn wir als Muslime Allah Tiere opfern. Das Wichtigste ist dabei, deutlich zu machen, dass wir bemüht sind, aus dem Beispiel vollkommener Hingabe des Propheten Ibrahim – Allahs Friede sei auf ihm – unsere Lehre zu ziehen und diese Eigenschaft in unserem Leben zu verwirklichen. Ansonsten, ohne diesen spirituellen Hintergrund, hat das Schlachten eines Tieres in der Sicht Allahs keinen Wert. Um dies zu betonen, heißt es im heiligen Qur’ân:

Ihr Fleisch erreicht Allah nicht, noch ihr Blut, sondern eure Gottesfurcht ist es, die Ihn erreicht. In dieser Weise hat Er sie (die Tiere) euch dienstbar gemacht, auf dass ihr Allah für Seine Rechtleitung preist. Und verkünde frohe Botschaft denen, die Gutes tun.“ (22:37)

Im Anschluss an das Opfer rasieren die Pilger ihre Köpfe, um zu demonstrieren, dass sie Diener Allahs sind. In vorislamischen Zeiten hatten die Herren, wenn sie einen Sklaven freiließen, diesem zuerst den Kopf geschoren, um damit zu zeigen, dass er ein Sklave war. In dieser Weise rasieren die Muslime ihre Haare ab, um zu zeigen, dass sie alleine Allahs Diener sind und Seinen Geboten folgen. Dies Scheren der Haare symbolisiert damit die Absicht, unser Leben ganz Allah zu widmen.

Minâ, der Ort an dem Ibrahim und Ismâ´îl – der Friede Allahs sei mit ihnen – Schaytân steinigten, ist eine heilige Stätte, die Zeugnis von ihrer Gottergebenheit und ihrem vollkommenen Vertrauen auf Allah ablegt.

Der Ritus des Steinewerfens symbolisiert zugleich das Steinigen des eigenen Schaytâns, des Nafs, des Egos. Und es erinnert daran, wie Ibrahim, Ismâ´îl und Hâjar standhaft und erfolgreich der Versuchung Schaytâns entgegentraten und ihn steinigten.

In früheren Zeiten war Steinigen gleichbedeutend mit Verfluchen. Das heißt, die Menschen verfluchten jemanden, indem sie ihn mit Steinen bewarfen. Die Eigenschaft Schaytâns, die zum Ausdruck bringt, dass er verflucht ist, heißt deshalb im Arabischen ‚Rajîm’, was ‚Gesteinigter’ bedeutet.

Und noch eine weitere Symbolik lässt sich in diesem Ritus des Steinigens erkennen. Das Steinigen erinnert uns an die Geschichte Abraha’s, eines christlichen Generals aus Jemen, der versucht hatte, aus Eifersucht die Ka´ba zu zerstören. Wie im Qur’ân berichtet wird, griff Abraha, mit einem gewaltigen Heer, darunter einer Reihe von Kriegs-Elefanten, Mekka an. Allah der Allmächtige jedoch sandte ein Heer von Vögeln, die kleine Steine aus gebranntem Ton auf die Armeen Abraha’s warfen. Durch diese Steine wurde Abraha’s gesamtes Heer vernichtet. So erinnert das Steinigen in Minâ auch an jenes Ereignis.

Zusammengefasst symbolisiert das Steinigen ein Verfluchen Schaytâns und eine Reinigung des Herzens von üblen oder teuflischen Einflüssen, um sich dann ganz und gar Allah zuzuwenden. Der Prophet – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden – sagte:

„Der Sinn des Steinigens besteht in nichts anderem, als Allahs des Erhabenen zu gedenken.“[2]

Und in einer anderen Überlieferung beschreibt er – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden – das Ziel der Riten der Hajj folgendermaßen:

„Das Steinigen, das Laufen zwischen Safâ und Marwâ und das Umrunden der Ka´ba sind allesamt dazu da, das Gedenken Allahs zu etablieren.“[3]

Safâ und Marwâ sind die beiden Hügel, zwischen denen Hâjar bei ihrer verzweifelten Suche nach Wasser für sich und ihren kleinen Sohn Ismâ´îl – Allahs Friede sei auf ihm – hin und her gelaufen war. Darauf hatte Allah ihnen den Quell Zamzam geschenkt, der bis zum heutigen Tage die Pilger mit Wasser versorgt. Im Gedenken an diese Ereignisse wird der Sa´î, das Laufen zwischen diesen beiden Hügeln, als Teil der Pilgerriten vollführt.

Um die Bedeutung dieser beiden Fels-Hügel zu betonen, sagt Allah im heiligen Qur’ân:

Wahrlich, Safâ und Marwâ gehören zu den (heiligen) Stätten Allahs ...“ (2:158)

Die Ka´ba ist das spirituelle Zentrum, dem sich alle Muslime auf der Welt im rituellen Gebet zuwenden. Sie symbolisiert das Herz der muslimischen Welt und an ihr spürt man am Deutlichsten den Herzschlag der Gemeinde Muhammads. So wie das Herz des Menschen das Zentrum seines Wesens darstellt, ist die Ka´ba der Ort, an dem das Göttliche in der irdischen Sphäre in Erscheinung tritt. Der Stellenwert der Ka´ba in der Welt entspricht dem des Herzen im menschlichen Körper. An der Ka´ba befindet sich der Standplatz des Propheten Ibrahim – Friede sei mit ihm –, der von den Muslimen ‚Khalîlullah’, was soviel heißt wie ‚enger Freund Allahs’, genannt wird. Allah der Allmächtige hat den Pilgern geboten, hinter diesem Standplatz, dem Maqâm Ibrahim, an dem die Fußabdrücke Ibrahims in einem Stein erhalten sind, die zwei Gebetseinheiten im Anschluss an die Umrundung der Ka´ba zu verrichten. Dies ist ein Zeichen und Ausdruck ihres Bemühens, ihm in seiner vollkommenen Hingabe an Allah nachzufolgen.

Und dann ist da der Schwarze Stein, dem alle Muslime Respekt erweisen. Sie küssen und grüßen diesen Stein als Zeichen ihrer Dienerschaft gegenüber Allah und um zu demonstrieren, dass sie bereit sind, den niederen Begierden ihres Egos und den Versuchungen Schaytâns zu widerstehen.

Dieser gesegnete Stein markiert den Anfang und das Ende der Riten der Hajj. Während alle anderen Steine der Ka´ba im Laufe der Zeit bei Restaurierungen ersetzt wurden, hat der Schwarze Stein stets seinen Platz in einer Ecke der Ka´ba behalten und ist von Millionen von Lippen geküsst und von Millionen gesegneter Hände berührt worden. So ist er, auch wenn er nur ein Stein ist, zu einem Symbol der Liebe zur Ka´ba, dem Haus Allahs, geworden. Der zweite rechtgeleitete Khalîf, ´Umar ibn al-Khattâb – möge Allah mit ihm zufrieden sein –, hat dieser Tatsache einmal treffend Ausdruck verliehen, wie ´Abdullah ibn Sarjis berichtete:

„Ich sah ´Umar ibn al-Khattâb – möge Allah mit ihm zufrieden sein – den Schwarzen Stein küssen und hörte ihn sagen: ‚Bei Allah, ich küsse dich in dem Bewusstsein, dass du nur ein Stein bist, der selbst weder nützen noch schaden kann. Und hätte ich nicht gesehen, wie der Gesandte Allahs dich küsste, hätte ich dich nicht geküsst’“[4]

Mit all ihren besonderen Eigenschaften ist die Ka´ba ein Schatten des göttlichen Königreichs und ein Quell der Gnaden und Segnungen Allahs. Hier treten, mehr noch als an irgendeinem anderen Ort der Heiligen Stätten, die Barmherzigkeit und Vergebung Allahs in Erscheinung. Sie ist ein Quell göttlicher Erleuchtung und die Sonne, die unsere Herzen erhellt.

Sie ist der Schauplatz, an dem die Einheit und Zusammengehörigkeit aller Menschen verschiedener Herkunft, Sprache, Lebensweise, Bräuche und Gewohnheiten in wundersamer Weise in Erscheinung tritt.

 

[1] ‚Tayy al-Makân’, wörtl.: ‚Zusammenfalten des Raumes’; Wundersames Überwinden von großen Entfernungen innerhalb kürzester Zeit

[2] Tirmidhî

[3] Nasa’î und Tirmidhî

[4] Muslim und Tirmidhî