Al-Istiqāma – Rechtschaffene Beharrlichkeit auf dem Wege Allāhs 3 - 3

In den Zeiten größter Unwissenheit, in denen die Menschen sich ganz dem Streben nach materiellen Gütern und den Wünschen und Begierden des Egos hingegeben hatten, übertrug Allāh besonderen, zu diesem Zweck erschaffenen, rechtschaffenen Menschen die Aufgabe des Prophetentums. Diese auserwählten her­vor­ragenden Gottesgesandten und Vorbilder ihrer Gemeinschaften waren vor­nehmlich mit drei Aufgaben betraut:

1. Die Verkündung und Verbreitung der Zeichen [ayāt][1] Allāhs, des All­mäch­tigen.

2. Das Lehren der Heiligen Schrift [kitāb] und der Weisheit [hikma].

3. Die Läuterung des Egos [nafs]; das heißt, die Menschen rechtschaffene Beharrlichkeit [istiqāma] zu lehren.

Die mit Ādam – Friede sei auf ihm – begonnene Kette der Gottesgesandten findet ihre Vervollkommnung und ihren Abschluss im ehrwürdigen Propheten Muhammad – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden. Was immer auch die Kritiker behaupten mögen, für die Gläubigen ist der ehrwürdige Prophet – Segen und Friede seien auf ihm –, dem der Edle Qur’ān herabgesandt wurde, sowohl in seiner äußeren Form als auch von seinem inneren Wesen her, eine vollkommene Verkörperung des geraden Wegs der Rechtschffenheit – erschaffen zu dem Zweck, der gesamten Menschheit als Vorbild und Ideal zu dienen.

Die rechtschaffene Beharrlichkeit [istiqāma] bzw. der gerade Weg der Rechtschaffenheit [sirāt al-mustaqīm] sind eine Art System rechtschaffener Werke. Ob Handlungen als rechtschaffene Werke gelten können, hängt von zwei Voraussetzungen ab, nämlich davon:

1. dem göttlichen Befehl Allāhs höchste Achtung zu zollen [tā‘zīm li-amr Allāh], d.h. die Gebote Allāhs in vollkommener Demut und mit größter gewissenhaftigkeit zu erfüllen, und

2. sich Allāhs Geschöpfen gegenüber mitfühlend und gütig zu zeigen [schaukat li-khalq Allāh], d.h. allem Erschaffenen um seines Erschaf­fers willen Liebe, Zuneigung und Barmherzigkeit entgegen zu bringen.

Nach einer weiteren Definition besteht rechtschaffene Beharrlichkeit darin, die Liebe zu Allāhs Gesandten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – stets frisch und lebendig zu halten, indem man danach strebt, einen Anteil an seiner beispielhaften Persönlichkeit zu erlangen und seine vorbildlichen Charakterzüge zu verwirklichen, nach dem Geist des Qur’ān und der Sunna zu leben und sich von den weltlichen Genüssen des Egos fernzuhalten, um so die Geheimnisse des Gottesdienstes, der Dienerschaft und der Gotteserkenntnis zu erwerben. Der Mensch sollte deshalb, um sich seiner Zielrichtung zu vergewissern und seine rechtschaffene Beharrlichkeit zu festigen, stets gewissenhaft die Welt seines Inneren beobachten. Durch diese stete gewissenhafte Beobachtung [murāqaba] lassen sich Abweichungen von der rein auf Allāhs Wohlgefallen ausgerichteten, aufrichtigen Handlungsweise verhindern, die deren Annahme durch Allāh sonst zunichte machen würden. Deshalb ist neben der Notwendigkeit einer absoluten Übereinstimmung dieser Handlungen mit den göttlichen Geboten auch die ihnen zugrunde liegende Absicht zu beachten, nämlich, ob sie tatsächlich in Aufrichtigkeit und ausschließlich für Allāh verrichtet werden. Andernfalls handelt es sich um unaufrichtige Taten, die nicht über die Stufe nutzloser Kraftanstrengungen hinausreichen.

Selbst der rechtgeleitete Kalif ‘Umar ibn al-Khattāb – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – war häufig bedrückt aus Sorge darüber, ob er wirklich fähig sei, seine Aufrichtigkeit und rechtschaffene Beharrlichkeit zu wahren. Als er das Amt des Kalifen übernahm sagte er:

O Volk, was würdet ihr tun, sollte ich vom Wege Allāhs abweichen?“

Da stand ein Beduine auf und rief:

O Kalif, mach dir darum keine Sorgen! Wenn du vom Weg abweichen solltest, werden wir dich mit unseren Schwertern korrigieren!“

Der ehrwürdige Kalif ‘Umar war damit höchst zufrieden und sprach:

Lobpreis sei Dir, O mein Herr, dafür dass Du mich mit einem Volk ge­seg­net hast, das mich, wenn nötig, korrigieren wird!“

Der ehrwürdige Prophet – möge Allāh ihn segnen und ihm Frieden schenken – hatte aus Sorge um die Sicherheit seiner Umma nur einem seiner Gefährten namens Hudhayfa mitgeteilt, welches die Merkmale derer waren, deren Herzen von Heuchelei befallen waren. ‘Umar – möge Allāh mit ihm zufrieden sein –, der davon wusste und sich große Sorgen machte, ob er nicht vielleicht dazu gehörte, fragte eines Tages Hudhayfa:

O Hudhayfa, um deiner Liebe zu Allāh willen, verrate mir, besitze auch ich die Merkmale der Heuchelei?“

Der ehrwürdige Hudhayfa – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – erwiderte:

O Kalif, ich kann dir nur hinsichtlich deiner selbst Gewissheit ver­schaf­fen: Du besitzt keine Merkmale der Heuchelei!“

Hasan al-Basrī – möge Allāh ihm barmherzig sein – sagte zu dem Hadīth-Wissenschaftler [muhaddith] Tawus, der zu seinen Schülern zählte:

Wenn dich das Unterrichten der Hadīth-Wissenschaften stolz macht, dann soll­test du aufhören, diese zu unterrichten!“

Imām al-Ghazālī, der dreihundert Schüler unterrichtete, fragte sich:

Unterrichte ich all diese Schüler wirklich nur um Allāhs Wohlgefallen zu erlangen, oder begebe ich mich dabei in die Gefahr, von Hochmut und Selbstgefälligkeit überwältigt zu werden?“

Daraufhin gab er von seinem Besitz alles weg, was nicht unbedingt nötig war, hörte für eine Weile auf zu unterrichten und suchte seine Zuflucht bei Allāh in völliger Abgeschiedenheit. Dabei erschien ihm die spirituelle Gestalt des Gesandten Allāhs – Segen und Friede seien auf ihm – und er fand endlich den ersehnten inneren Frieden. Nachdem er aus diesen inneren Kämpfen befreit hervorgegangen war, sagte er: „Gepriesen sei Allāh, nun habe ich inneren Frieden gefunden!“ Und in der Tat war es ein vollkommen veränderter al-Ghazālī, der da fortan zum Vorschein kam.

Als Sultan Yavuz Salīm Khān, dem ein triumphaler Siegeszug nach dem anderen zuteil geworden war, siegreich aus Ägypten nach Istanbul zurückkehrte, hörte er dass ihn dort seine Untertanen begeistert und voller Bewunderung erwarteten. Daraufhin schlug er, kurz bevor er die Stadt erreicht hatte, in der Nähe von Camlica sein Feldlager auf und zog nicht nach Istanbul ein, weil er fürchtete, dass ihn sein Ego beim Anblick der jubelnden Massen zu Überheblichkeit und Arroganz verleiten könnte. Zu seinem Hofmeister Hasan Can sagte er:

Hofmeister, lass uns warten, bis es dunkel ist und die Leute alle nach Hause gegangen sind, dann ziehen wir nach Istanbul ein. Wir wollen nicht zulassen, dass die Beifallsbekundungen der Sterblichen, die Siegerorden und die Huldigungen unsere Egos so mit Stolz erfüllen, dass wir nieder­ge­streckt am Boden liegen.“

So zog er, nachdem alles sich beruhigt hatte, im Schutze der Dunkelheit heimlich und unbemerkt in die Stadt ein.

All diese Beispiele lehren uns, dass wir unter allen Umständen beharrlich am geraden Weg der Rechtschaffenheit festhalten und unsere Herzen von jeglicher Art von Unreinheiten reinigen müssen. Denn das Herz ist der Ort, auf dem der göttliche Blick Allāhs, des All-Gewaltigen, ruht. Die Vorzüglichkeit jedes Gottesdienstes hängt von der Reinheit des Herzens ab. Wie es in einem Vers des Edlen Qur’ān heißt:

{An jenem Tage werden weder Besitz noch Nachkommen nützen, sondern nur, wenn jemand mit einem reinen Herzen erscheint.} (26:88-89)

Meister Jalāl al-Dīn Rūmī – möge Allāh sein Geheimnis heiligen – bringt das folgende, treffende Gleichnis für das reine Herz: Der Prophet Yūsuf – Friede sei mit ihm – fragte einen Freund, als dieser von einer Reise zurückkehrte:

Was hast du mir von der Reise mitgebracht?“

Der Freund erwiderte:

Was gibt es denn, was du nicht besäßest? Doch da es nichts gibt, was schöner ist als du, habe ich dir einen Spiegel mitgebracht, damit du darin jederzeit deine eigene Schönheit betrachten kannst!“

Allāh, der Allmächtige, ist über alles erhaben. Der ursprüngliche und wahre Grund aller Schönheit ist ihr Schöpfer. Mach dich mit reinem Herzen zum höchs­ten inneren Frieden in Seine Gegenwart auf und schaue die grenzen- und zeitlosen Manifestationen Seiner Geheimnisse! Und Allāhs Gesandter – Segen und Frieden seien auf ihm – hat gesagt:

Wahrlich, Allāh schaut nicht auf eure Körper und eure äußere Form sondern Sein Blick ruht auf euren Herzen!“[2]

O Allāh! Lass uns auf dem geraden Weg der Rechtschaffenheit und Deiner Rechtleitung wandeln! Mache uns fest auf dem Weg der ewigen Glückseligkeit und Gnadengaben, dem Weg derer, denen Du Deine Gnade erwiesen hast, dem Weg der Propheten, der Wahrhaftigen, der Märtyrer und Rechtschaffenen! Lass uns nicht den Weg der rechtschaffenen Beharrlichkeit verlassen! Bewahre uns vor den verabscheuenswürdigen Irrwegen derer, die Deinen Zorn auf sich herabbeschworen haben oder wegen ihrer Irrlehren unter Gram und Schmerzen der Vernichtung anheim fallen!

Āmīn!

 

[1] Mit Āya, pl. Ayāt, wörtl. „Zeichen“ werden die Verse des Edlen Qur’ān bezeichnet, die als „Zeichen Allāhs“ verstanden werden.

[2] Sahīh Muslim, Kitāb al-Birr, 33; Sunan Ibn Mājah, Kitāb al-Zuhd, 9.