Al-Istiqāma* – Rechtschaffene Beharrlichkeit auf dem Wege Allāhs 1 - 3

Einmal kam einem der großen Gottesfreunde ein Greis mit einer schweren Last Holz auf dem Rücken mit großen, kraftvollen Schritten entgegen. Nachdem dieser näher gekommen war, fragte der Gottesfreund den Alten:

O, Scheikh, hast du denn kein Vertrauen in deinen dich versorgenden, großzügigen Schöpfer, Allāh, den Allmächtigen, dass du dich in deinem Alter mit einer solchen Arbeit plagst?“

Der alte Holzträger wandte, wie um sein Unverständnis für die spirituelle Unreife des Fragers zum Ausdruck zu bringen, seinen Blick dem Himmel, erhob seine Hände zum Bittgebet und sprach:

O Herr, verwandle Du dies hier in Gold!“, woraufhin das Feuerholz auf seinem Rücken tatsächlich zu Gold wurde.

Als er dieses Wunders gewahr wurde, war der Gottesfreund völlig verblüfft und fragte den Alten:

Aber warum schleppt einer, der eine solche Stufe erreicht hat, sich mit Brennholz ab?“

Der alte Holzträger erwiderte:

Mein Sohn, ich tue dies, damit mein Ego sich stets dessen bewusst bleibt, dass ich ein Diener bin, und nicht die Grenzen des Bereichs der Dienerschaft überschreitet. Denn wahrlich, das Angenommen-Sein von Allāh gründet auf rechtschaffener Beharrlichkeit in der Dienerschaft!“

Aus eben diesem Grunde sagte einer derer, denen Gotteserkenntnis gegeben war:

„Das größte Wunder ist die rechtschaffene Beharrlichkeit auf dem Wege Allāhs!“

Der Begriff Istiqāma beschreibt im ursprünglichen Sinne „ein ständiges Fortschreiten in Richtung des Ziels, ohne Zweifel und Furcht.“ In der Terminologie des Tasawwuf[1] bedeutet er „das Bewahren der ursprünglichen Schuldlosigkeit und Reinheit, ohne dass diese geschädigt oder vernichtet werden.“

Infolge einer kontinuierlichen Bewahrung des inneren geistigen Lebens des Herzens, wird das Ego [nafs] an die rechte Verhaltensweise [adab] gewöhnt, während das Herz sich dem vollkommenen Charakter des Propheten Muham­mad [akhlāq al-Muhammadī] – Segen und Friede seien auf ihm – annähert. Dabei enthüllen sich Geheimnisse; Allāh, der All-Erhabene, selbst wird zum absoluten Ziel aller Anstrengungen; alles andere außer Allāh wird bedeutungslos und der Gläubige erreicht einen Zustand, in dem er bereit ist, in die göttliche Gegenwart zu treten. Das höchste Beispiel vollkommenen Charakters, der Stolz des Universums, der ehrwürdige Prophet Muhammad – der Segen und Frieden Allāhs seien auf ihm – erhielt von seinem Herrn die göttliche Aufforderung: {So halte fest an rechtschaffener Beharrlichkeit, wie es dir aufge­tra­gen ward!} (11:112)

Mit der Offenbarung dieses Vers der Sure al-Hūd und dem darin enthaltenen eindrucksvollen Gebot, stets am Weg der Wahrheit festzuhalten, erlegte Allāh dem ehrwürdigen Propheten – möge Allāh ihm Segen und Frieden schenken – eine gewaltige Verantwortung auf, sodass dieser einmal äußerte: „Die Sure al-Hūd hat mich alt werden lassen![2]

Wie überliefert wird, sah einer der Rechtschaffenen Allāhs Gesandten – Segen und Friede seien auf ihm – im Traum und fragte ihn: „O Gesandter Allāhs, was ist es in der Sure al-Hūd, das dich hat alt werden lassen?“ Daraufhin antwortete ihm der ehrwürdige Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden: „Es ist der Vers {So halte fest an rechtschaffener Beharrlichkeit, wie es dir aufgetragen ward!}.[3]

‘Abd Allāh ibn ‘Abbās – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – sagte:

Für den Gesandten Allāhs – Segen und Friede seien auf ihm – gab es im Edlen Qur’ān keinen Vers, der eine schwierigere Anweisung Allāhs be­inhal­tet hätte als dieser.[4]

Aus diesem Grund begannen Bart und Haare des Gesandten Allāhs – möge Allāh ihm Segen und Frieden schenken –, die bis dahin pechschwarz gewesen waren, nach der Herabsendung dieses Verses zu ergrauen. Die Kommentatoren erklären die Bedeutung dieses Qur’ānvers so:

„O Prophet! Dir wurde aufgetragen, entsprechend den im Qur’ān ver­kündeten Charaktereigenschaften und Bestimmungen ein solches Beispiel von rechtschaffener Beharrlichkeit auf dem Wege Allāhs zu sein, dass kei­ner­lei Raum mehr für Zweifel oder Widerspruch bleibt! Kümmere dich nicht um die Reden der Götzenanbeter und Heuchler, sondern über­lasse sie Allāh! Halte in allen öffentlichen und privaten Aufgaben in recht­schaffener Beharrlichkeit am Wege Allāhs fest, so wie es dir aufge­tragen wurde, und weiche nicht vom geraden Weg der Rechtschaffenheit [sirāt al-mustaqīm] ab! Lass dich, so schwer dies auch sein mag, von keinerlei Widerständen an der Verkündung, Durchführung und Anwendung dieses göttlich offenbarten Befehls hindern! Dein Herr wird dein Beistand und Helfer sein!“

Dieser Vers und die darin enthaltene schwerwiegende Aufforderung Allāhs richten sich, auch wenn in ihr zuerst der ehrwürdige Prophet – Allāhs Segen und Friede seien auf ihm – angesprochen wird, an seine gesamte Gemeinschaft [umma].[5] Was den Propheten in der Tat ergrauen ließ, war die Sorge um seine Umma, an die der Vers eigentlich gerichtet ist. Denn was die Rechtschaffenheit des Propheten – Segen und Friede seien auf ihm – selbst angeht, ist diese unanzweifelbar in dem Vers besiegelt:

{Wahrlich, du bist einer der Gesandten, auf einem geraden Weg der Rechtschaffenheit!}[6]

Es gibt keinen Weg, ohne Istiqāma in die göttliche Gegenwart Allāhs zu gelangen, und es gibt wohl kein Gebot, das so schwer zu erfüllen ist und dessen dauerhafte Einhaltung zugleich eine solch hohe spirituelle Stufe mit sich bringt, wie die Aufforderung, an rechtschaffener Beharrlichkeit auf dem Wege Allāhs festzuhalten. Aus diesem Grund, und um die Umma ständig aufs Neue daran zu erinnern, ist diese Aufforderung in Form einer Bitte in der Sure al-Fātiha enthalten, die jeder Gläubige täglich mehrere Male rezitiert.

Der gerade Weg der Rechtschaffenheit [sirāt al-mustaqīm] lässt sich, aus der Sicht der Aussagen des Edlen Qur’ān betrachtet, in vielfältiger Weise beschreiben; z.B. als „der Weg Allāhs“, „der gerade Weg“, „der rechte Weg“, „das Buch Allāhs“, „der Glaube und die mit ihm verbundenen Dinge“, „der Islam und sein göttliches Gesetz“, „der Weg des Gesandten Allāhs – Segen und Friede seien auf ihm – und seiner bedeutenden Gefährten“, „der Weg der Sunna und der Gemeinschaft“, „der Weg der Rechtschaffenen und Märtyrer“, „der Weg zum Glück im Diesseits und im Jenseits“, „der Weg ins Paradies“, und viele andere ähnliche Bedeutungen.

 


*Al-Istiqāma bedeutet wörtlich: Geradheit, Aufrichtigkeit, Anständigkeit, Rechtschaffenheit, Redlichkeit, Richtigkeit und Korrektheit.

[1] Tasawwuf ist die Wissenschaft der innerlichen Läuterung im Islam; auch „Sufismus“ oder „Sufitum“ genannt.

[2] Al-Tirmidhī, Tafsīr Sura 56:6. In al-Tirmidhīs Schamā’il al-Muhammadiyya heißt es: „Abū Bakr sagte: ‚O Gesandter Allāhs, du bist auf einmal grau geworden!’ Da sagte er: ‚(Die Suren) Hūd, al-Wāqi‘a, al-Mursalāt, sowie ‘Amma yatasā’alūn und Idhā al-Schamsu kuwirat haben mich ergrauen lassen!“ Und: „Abū Juḥayfa berichtete: Sie sagten: ‚O Gesandter Allāhs, wir sehen, dass du auf einmal ergraut bist.‘ Er sagte: ‚Es ist (die Sure) Hūd und ihre Geschwister, die mich haben ergrauen lassen.‘ “

[3] Siehe Imām al-Ghazālīs Ihyā ‘Ulūm al-Dīn, Bd. III, 145.

[4] Elmalılı Muhammed Hamdi Yazır, Elmalılı Tefsīri, Bd. V, 18.

[5] Anm. d. Übers.: Dies wird auch im weiteren Verlauf des Verses deutlich, wo es heißt: {So halte fest an rechtschaffener Beharrlichkeit, wie es dir aufgetragen ward; und desgleichen diejenigen, die sich mit dir bekehrt haben!} (Qur’ān, 11:112).

[6] Qur’ān, 36:3-4, dort heißt es: {Wahrlich, du bist einer der Gesandten, auf dem geraden Weg der Rechtschaffenheit! [‘alā sirāt al-mustaqīm]}. Der Begriff Sirāt al-mustaqīm, hier übersetzt mit „gerader Weg der Rechtschaffenheit“ leitet sich von der gleichen Wortwurzel ab wie istiqāma, hier übersetzt mit „rechtschaffene Beharrlichkeit“.