Al-Insān al-Kāmil – Der vollkommene Mensch 3 - 3

Der vollkommene Mensch gibt, zur rechten Zeit und am rechten Ort, mit solcher Freigiebigkeit, dass mancher Betrachter ihn für einen Verschwender halten könnte. Ein anderes Mal oder an einem anderen Ort mag es sein, dass er so wenig gibt, dass man ihn für knauserig oder geizig halten könnte. Die Wahrheit jedoch ist, dass er allein entsprechend dem Wohlgefallen seines Herrn lebt und handelt. Und Allāh, der All-Erhabene, befiehlt im Edlen Qur’ān:

{Und lass dem Angehörigen sein Recht zukommen, ebenso dem Be­dürf­tigen und dem Reisenden, doch handle nicht verschwenderisch; wahrlich, die Verschwender sind Brüder der Schaytāne; und Schaytān ist ein Leug­ner (der Gnaden) seines Herrn.} (17:26-27)

{Und lass deine Hand nicht (aus Geiz) an deinen Nacken gefesselt sein; doch strecke sie auch nicht allzu großzügig geöffnet aus, damit du nicht infolge dessen unter Vorhaltungen mittellos dasitzt.} (17:29)

Der Umayyaden-Kalif ‘Umar ibn ‘Abd al-‘Azīz verstand den Sinn dieser Verse und handelte danach, indem er seinen Besitz, und den seiner Angehörigen – sofern diese damit einverstanden waren – an die Bedürftigen, die Hilflosen und die Waisen verteilte. Auf diese Weise wurde er zu einem gesellschaftlichen Vorbild für seine Untertanen. Und da die Wohlhabenden unter seiner Herrschaft diesem edlen Beispiel nacheiferten, gab es bald keine Armen mehr, die berechtigt gewesen wären, die Zakāt[1] zu empfangen. Darüber hinaus machte ‘Umar ibn ‘Abd al-‘Azīz beispielhaft seine Abneigung gegen jede Art von Luxus und Verschwendung deutlich, indem er auf Paläste verzichtete und stattdessen in einem Zelt wohnte.

Der vollkommene Mensch ist ständig mit der Beobachtung und Kontrolle seines eigenen Egos [nafs] beschäftigt. Aus diesem Grunde schenkt er den Unzulänglichkeiten und Fehlern anderer Menschen keine Beachtung. Die Geheimnisse und das heimliche Tun der Menschen interessieren ihn nicht, noch bringt er sie ans Tageslicht, wenn er davon erfährt. Er imitiert stattdessen die erhabene Eigenschaft seines Herrn, des „die Fehler Bedeckenden“ [Sattār al-‘uyūb].

Indem er ein Leben in Seelenfrieden ohne emotionale Abhängigkeit von den vergänglichen Freuden der Welt führt, bekleidet der vollkommene Mensch eine Rangstufe majestätischer Ausstrahlung [hayba], um die ihn manch einer beneidet. Selbst die Welt des Diesseits liegt ihm dabei – durch Allāhs göttlichen Befehl – zu Füßen, wie es in einem Ausspruch des Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – zum Ausdruck kommt:

Wer das Jenseits zum Mittelpunkt seines Strebens macht, dem füllt Allāh sein Herz mit Reichtum, bringt ihm seine Angelegenheiten in Ordnung; und das Diesseits kommt zu ihm und ist ihm zu Diensten. Wer hingegen das Diesseits zum Mittelpunkt seines Strebens macht, dem hält Allāh sei­ne Armut vor Augen, bringt ihm seine Angelegenheiten durcheinander, und ihm kommt nichts vom Diesseits zu, außer dem, was ihm ohnehin vor­her­bestimmt war.“[2]

Der vollkommene Mensch hat eine solch hohe Stufe des Charakters erreicht, dass er nicht mehr aufgebracht oder zornig wird – es sei denn um Allāhs willen. Er hat jene trefflichen Eigenschaften verinnerlicht, die Allāh im Edlen Qur’ān beschreibt, wenn Er sagt:

{Sie sind diejenigen, die in guten und schlechten Zeiten freigiebig spen­den, ihren Zorn beherrschen und den Menschen verzeihen – und Allāh liebt die rechtschaffen Handelnden!} (3:134)

So vergab Ja‘far al-Sādiq, der eine lebende Verkörperung dieses Verses war, seinem Diener, als der ihn mit heißem Essen übergossen hatte, und behandelte ihn in bester Weise. Und Hasan al-Basrī verzieh jenen, die ihn mit übler Nachrede verleumdet hatten, betete für sie um Rechtleitung und sandte ihnen Geschenke, um sie so zum Guten zu erziehen.

Wie treffend beschreibt der Dichter Yunus Emre die Zustände jener großartigen Persönlichkeiten des Islam:

Das Fasten, das Gebet und die Pilgerfahrt,

denke nicht, dies sei schon vollkommener Weltverzicht!

Um ein vollkommener Mensch zu sein

bedarf es tieferer Erkenntnis!

Rechts und links wende ich die Augen,

des Freundes Antlitz zu erblicken,

ich suche auch im Landesinnern;

Sei, Herz, mit dem Geliebten im Innern!

Der vollkommene Mensch ist in allen Lebensumständen mit Wohltaten und Got­tesdienst beschäftigt. Jedem seiner Atemzüge entströmt der Lobpreis Allāhs [tasbīh], seine Worte sind Perlen der Weisheit [hikma]. Seine Augen sind Quell gottgegebener Gnaden [fayd] und selbstloser Liebe [mahabba]. Sein Anblick bringt die Menschen dazu, Allāhs zu gedenken. Seine Zusammenkünfte [suhba] erfüllen das Leben der Anwesenden mit dem köstlichen Geschmack der Gottesnähe und mit Erfahrungen tiefen Glücks, denn seine Erzählungen sind geprägt von der gelassenen Heiterkeit des Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – und erfüllen die Herzen der Zuhörer mit den Gaben spiritueller Erkenntnis. Für jene, die nach den Mysterien des Göttlichen dursten, wird er zum Übersetzer der Geheimnisse ewiger Wahrheit und höchster Wirklichkeit.

Allāh, der Erhabene, liebt den in seinen Charaktereigenschaften und Zuständen vollkommenen Menschen und bringt Seine Diener dazu, diesen ebenfalls zu lieben. Dieser führt wiederum mit Liebe, Freundlichkeit und aufrichtiger Hingabe die Suchenden und Reisenden auf dem Pfade Allāhs. Dabei bemüht er sich aufopfernd und mit aller Kraft, die Menschen in seiner Umgebung aus der Finsternis ihrer Egos zum himmlischen Licht zu leiten. Entbehrungen, die anderen als Quälerei erscheinen mögen, genießt der vollkommene Mensch als wertvolle und köstliche Erfahrungen, denn von seinem strahlenden Vorbild, dem Prophet Muhammad – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden –, der wie kein anderer auf eben diesem Wege Mühsal und Qualen ertrug, wird überliefert, er habe gesagt: „Der Kummer ist der Schlüssel des Herzens!“[3]

Der vollkommene Mensch ist eine Schatzkammer göttlicher Mysterien. Seine Vollkommenheit erkennen jedoch nur jene, die mit den Geheimnissen des Göttlichen vertraut sind, denn in der äußerlichen Form seines Körpers unterscheidet er sich nicht von gewöhnlichen Menschen. Seiner Seele hingegen hat Sein allgnädiger Herr die Stufe makelloser, vollendeter Dienerschaft verliehen. Er repräsentiert das Geheimnis der {vorzüglichsten Gestalt [ahsani taqwīm]} (95:4). Der vollkommene Mensch ist ein Born göttlichen Lichts und eine der kostbaren Perlen in der Kette der rechtschaffenen Gottesdiener. Ihm ist die Gnade direkt von Allāh inspirierten Wissens [al-‘ilm al-ladunnī] gegeben, wie es durch Khidr – Friede sei auf ihm – in Erscheinung tritt.

Die Seele eines vollkommenen Menschen vergeht nicht, wenn dieser unter der Erde liegt. Aus diesem Grunde bleiben die Werke seiner Seele ewig bestehen. Solch ehrwürdige Menschen, wie Schāh al-Naqschband, Imām al-Ghazālī, Maulānā Rūmī oder Edeb ‘Alī – möge Allāh ihre Geheimnisse heiligen – die der Menschheit in dieser Welt großartige Dienste geleistet haben, leben und wirken auch nach ihrem Tod in der Zwischenwelt [barzakh] als vollkommene Menschen weiter. Sie sind lebendig unter uns und werden auch dann noch lebendig sein, wenn wir schon längst gestorben sind. Oftmals ist das Erreichen der göttlichen Gegenwart das Ergebnis eines heimat- und besitzlosen, nach außen hin ganz unauffälligen, jedoch von großer Spiritualität geprägten Lebens. Deshalb beschenkt Allāh der Erhabene den vollkommenen Menschen mit dem Glück beider Welten, indem Er ihn vor jeglicher Furcht und Trauer bewahrt. In einem Vers des Edlen Qur’ān sagte Er:

{Siehe, die Vertrauten Allāhs überkommt keine Furcht noch werden sie traurig sein!} (10:62)

In den großartigsten Kapiteln der Menschheitsgeschichte nehmen solch vollkommene Menschen stets eine zentrale Rolle ein. Ihre Unterweisung ist es, die das Wesen der Herrscher und Eroberer von Weltreichen prägte und sie zur Rechtschaffenheit und Aufrichtigkeit erzog. In dieser Hinsicht waren besonders die ersten drei Jahrhunderte des Osmanischen Reiches erfüllt von der spirituellen Führung und den vielfältigen Segnungen Scheikh Edeb ‘Alīs und anderer vollkommener Menschen von ähnlich bedeutsamer Statur. Ihre Ratschläge und Anweisungen entstammten der spirituellen Welt. Bei genauerer Betrachtung wird die Freude, die Liebe und die Hingabe jener vollkommenen Menschen, die mit Murād Khān im Kosovo kämpften oder die in anderen Gebieten, von den Wüsten Jemens bis in die Gebirge des Kaukasus ihr Leben einsetzten, sichtbar.

Sultan Yavūz Salīm Khān zog – obwohl er Herrscher eines Weltreiches war – den hingebungsvollen Eifer auf dem spirituellen Pfad und das hochgesteckte geistige Ziel, zu einem vollkommenen Menschen zu werden, allen materiellen und weltlichen Ambitionen vor. Er schrieb in einem seiner Gedichte:

Padischah der ganzen Welt zu sein ist ein sinnloser Kampf.

Erhabener als alles andere ist es, Diener eines Gottesfreundes zu sein!

 

Wir bitten unseren erhabenen Herrn, uns den gleichen hingebungsvollen Lie­bes­eifer zu gewähren, den Er Sultan Yavūz Salīm geschenkt hat. Möge Allāh, der Allmächtige, uns die spirituellen Gnadengaben und die Segnungen der Nähe zu Seinen rechtschaffenen Dienern und wahren Gottesfreunden gewähren!

Āmīn!

 

[1] Zakāt ist die islamische Pflichtabgabe, die jährlich auf Gold und Silber (bzw. die jeweils gültigen Zahlungsmittel), Vieh, sowie andere Formen von Besitz zu entrichten ist. Eine ausführliche Darstellung dieses Themenkomplexes findet sich in Osman Nuri Topbaş’s Werk Das Stiftungs- und Spendenwesen im Islam.

[2] Al-Tirmidhī, Sunan, Hadīth Nr. 2465.

[3] Muhammad ibn Sulaymān al-Rudānī, Jam‘ al-Fawā’id, Bd.V. 331.