Al-Insān al-Kāmil – Der vollkommene Mensch 1 - 3

Einer Überlieferung zufolge begegnete ‘Īsā – auf ihm sei Friede – einmal einem Mann, an dessen Körper die Haut in Fetzen herunterhing und dessen Wangen völlig eingefallen waren. Er hörte, wie dieser Mann, offensichtlich ohne seiner Krankheit die geringste Bedeutung beizumessen, sprach:

O Herr! Dir gebühren ewiger Lobpreis und Verherrlichung ohne Unterlass dafür, dass Du, angesichts der gewaltigen Zahl all Deiner schwergeprüften Geschöpfe, gerade mich von der Last meines Elends befreit hast!“

‘Īsā – auf ihm sei Friede – sagte zu dem Mann, mit der Absicht, dessen Denk­weise zu begreifen und seine Vollkommenheit zu prüfen:

O du, welches Leid hat Allāh denn von dir genommen?“

Der kranke Mann antwortete ihm daraufhin:

O Geist Allāhs[1], die schrecklichste Krankheit und das größte Elend besteht darin, wenn das Herz gegenüber Allāh, dem Allmächtigen, achtlos und verschlossen ist. Ich danke Allāh, dem Erhabenen, dass Er mich davor bewahrt hat. Denn ich gehe ganz im köstlichen Geschmack und der Glückseligkeit jener Gotteserkenntnis auf, die Allāh mir ins Innere meines Herzens gelegt hat. Das Glück und die Wohltaten der äußeren Welt hin­ge­gen sehe und spüre ich nicht.“

Der Mensch, über den Allāh, der Erhabene, sagt, dass Er ihn {in der vor­züg­lichsten Gestalt}[2] erschaffen hat, stellt innerhalb der Existenz nur eine Art Ausgangspunkt oder Samenkorn dar. Denn Allāh, der Vereiniger aller Gegensätze, hat ihm von allen unterschiedlichen Eigenschaften einen mehr oder weniger großen Anteil verliehen. Und genau darin besteht die Weisheit seines ehrwür­digen Daseins­zwecks.

Aus dieser Sichtweise betrachtet, ist der Mensch sowohl mit dem Potential, die höchsten Höhen edler Eigenschaften zu erreichen, als auch mit den Anlagen zum Absturz in die tiefsten Niederungen charakterlicher Abgründe ausgestattet. Das menschliche Leben stellt eine ewig hin und her wogende Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Polen dar. Der Mensch, den man als ein „kleines Universum“ bezeichnen kann, präsentiert sich damit als ein Abbild des großen Universums und des darin ständig stattfindenden Wechselspiels gegensätzlicher Kräfte.

Die einzigartige Besonderheit, die dem Menschen erst sein wahres Mensch­sein verleiht, ist die Fähigkeit, diesen naturgegebenen Zustand inneren Widerstreits zu einem positiven Ergebnis zu bringen. Diejenigen, denen dieser Rang zuteil geworden ist, gebührt der Titel Insān kāmil, das heißt: „vollkommener Mensch“. Sie sind anschauliche Exempel feinster Wesensart und ein erlesener Born meisterlich formvollendeter Mysterien. Sie sind die Zusammenfassung des Buches der Existenz und seine Eröffnung; sie sind der Sitz der Ma­ni­festationen des Schöpfungsgeheimnisses. Selbst der Körper eines solchen vollkommenen Menschen spiegelt, aufgrund seiner außergewöhnlichen Kontrol­le über seine Organe, die Reinheit seines Herzens wider. Sein Herz ist ein Hort inniger Liebe und leidenschaftlicher Zuwendung zu Allāh, es gleicht einem prächtigen Palast, erfüllt mit den herrlichen Schätzen der Erkenntnis Allāhs, des Erhabenen. Aus diesem Grund kann man das Herz eines solchen vollkommenen Menschen im übertragenen Sinne als „Haus Gottes“ [bayt Allāh] bezeichnen. Eine exakte, detaillierte Beschreibung oder perfekte Analyse des „vollkommenen Menschen“ ist recht diffizil. Der ehrwürdige Scheikh Sa‘dī al-Schirāzī sagt:

Das Herz ist der Ort, auf dem der göttliche Blick Allāhs des All-Gewaltigen ruht!

Die Worte eines solchen vollkommenen Menschen sind voller Weisheit und Geheimnisse, seine Handlungen sind rechtschaffene Werke. Sein Wesen ist ganz und gar vom Geist des ehrwürdigen Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – durchdrungen. Durch das Wirken seines Herzens ist sein Dasein ein ständiger Neubeginn; und es ist jener Zustand des von all seinen Gebrechen genesenen, mit Frieden erfüllten Herzens, der ihm seine Stellung in der göttlichen Gegenwart als Stellvertreters Allāhs auf Erden ermöglicht. Der vollkommene Mensch ist in seinem Dasein derart von den Strömen göttlicher Gnaden bestimmt, dass all seine Worte Darlegungen des göttlichen Gesetzes [scharī‘a], seine Taten Ausdruck des spirituellen Weges [tarīqa] und seine Zustände Widerspiegelungen der absoluten Wirklichkeit [haqīqa] sind. Sie umfassen die wahre Essenz des Prophetenwortes:

Wahrlich, unter den Erdenbewohnern gibt es Gefäße Allāhs; und die Gefäße eures Herrn sind die Herzen Seiner rechtschaffenen Diener, und am liebsten von ihnen sind Ihm diejenigen, die am sanftmütigsten und am feinfühligsten sind!“[3]

Weiterhin wird überliefert, dass Allāh, der Erhabene, in einem Hadīth qudsī spricht:

Weder Himmel noch Erde können Mich umfassen, doch das Herz Mei­nes gläubigen Dieners kann Mich umfassen!“[4]

Der vollkommene Mensch gleicht in seiner bedingungslosen Liebe zu seinem Herrn einem Schmetterling, der, befreit von den Fesseln seines eigenen Wollens, willenlos das Licht umkreist. Für einen vollkommenen Menschen bedeutet die göttliche Bestimmung, dass alles, was geschieht, stets vollkommen und das unübertroffen Beste ist. Da er die Dinge ausschließlich aus der Perspektive des Göttlichen betrachtet, sind weltliche Leidenschaften und irdische Wünsche seinem Blickfeld ganz und gar entrückt. Von jener Wichtigkeit, die gewöhnliche Menschen den vergänglichen Daseinszusammenhängen beimessen, ist bei ihm nichts mehr vorhanden.

Der vollkommene Mensch ist in seinem Zustand ganz auf die Schau der zeit­losen Schönheit des Göttlichen und den einzigartigen Gang der Welten­krei­se ausgerichtet. Das Universum und alles, was sich darin ereignet, sind für ihn Gleichnisse und Quell zahlloser Weisheitslehren. In seiner Haltung absoluten Respekts und seinem aufrichtigen Streben nach dem Wohlgefallen des Allmächtigen, verzichtet er für sich selbst auf jede Art von Begehren. Selbst seine Bittgebete gelten immer nur den anderen. Sein Herz ist ganz durchdrungen von einer natürlichen Wesensart allumfassenden Mitgefühls für die gesamte Schöpfung. Er hat erfahren und verinnerlicht, dass jenes göttliche Programm, welches dem gesamten Universum zugrunde liegt – in absoluter Perfektion und größter Weisheit – alles an seinen Platz gestellt und allen Dingen die vollkommenste Form verliehen hat.

Der ehrwürdige Meister Sünbül Sinān – möge Allāh sein Geheimnis heiligen – fragte einmal seine Schüler:

Was tätet ihr, wenn euch Allāh der All-Erhabene – was natürlich voll­kom­men unmöglich und unvorstellbar ist – die Autorität verliehe, das Welt­geschehen zu bestimmen?“

Nachdem sie zuerst von dieser unerwarteten Frage vollkommen überrascht eine Weile sprachlos dagesessen hatten, begannen die Schüler, einer nach dem anderen, unterschiedliche Antworten zu geben. Einer sagte:

Ich würde keinen Ungläubigen mehr auf der Welt übrig lassen.“

Ein anderer sagte:

Ich würde alles Schlechte ausmerzen!“

Wieder ein anderer meinte:

Ich würde alle Säufer vernichten.“

Und so gab jeder seine Ansicht zum Besten. Unter den Schülern war einer, der zu all dem schwieg. Der Scheikh, dem dies natürlich nicht entgangen war, wandte sich ihm zu und fragte ihn:

O mein Sohn, was würdest du denn tun?“

Der Angesprochene wurde vor Scham ganz rot im Gesicht, weil der Scheikh ihm persönlich eine solch ungeheuerliche Frage stellte; dann antwortete er be­scheiden, mit leiser Stimme:

O mein Meister! Hat Allāh denn in der Bestimmung des Weltge­sche­hens – möge Er uns davor bewahren so etwas jemals anzunehmen – die geringste Unvollkommenheit zugelassen, so dass ich irgendetwas an­ders machen könnte? Er hat dem Gläubigen seinen Platz bestimmt, und dem Ungläubigen den seinen. Wie könnte ich mich angesichts der All­macht, die sich ununterbrochen in der göttlichen Weltordnung des Uni­ver­sums manifestiert, mit meinem dürftigen, unreifen und begrenzten Ver­stand er­dreisten zu sagen: ‚Ich würde dieses so oder jenes so-und-so machen.‘?“

Dann senke er schüchtern seinen Blick zu Boden. Der ehrwürdige Meister war über diese vortreffliche und tiefsinnige Antwort hocherfreut. Mit einem Lächeln auf den Lippen und einem lichtstrahlenden Blick auf seinen Schüler sagte er:

Jetzt sind wir zu guter Letzt zum Zentrum (türk. merkez) dieses Themas vorge­drun­gen!“

Von diesem Tag an wurde jener Schüler, der eigentlich Mustafa Muslih al-Dīn hieß, nur noch „Merkez Efendi“ genannt.

 

[1] Im Islam wird ‘Īsā – auf ihm sei Friede – entsprechend einem Vers im heiligen Qur’ān mit dem Ehrentitel Rūh Allāh, d.h. „Geist Allāhs“, bezeichnet.

[2] Allāh sagt in der Offenbarung: {Fürwahr, Wir haben den Menschen in der vorzüglichsten Gestalt erschaffen.} (Qu’rān, 95:4)

[3] Al-Tabarānī, Musnad al-Schāmiyyīn, Bd. II, Nr. 840

[4] Zitiert von Imām al-Ghazālī in Ihyā ‘Ulūm al-Dīn ohne Überliefererkette.