Das Geheimnis der Gottesliebe 2 - 3

Jede Form von Liebe ist deshalb in dem Maße erstrebenswert, in dem das, worauf sie gerichtet ist, annehmbar ist – ansonsten bringt diese Liebe dem Herzen letztendlich nur Schaden und Verlust. Das Herz sollte jedoch – nachdem es die Segnungen dieser verschiedenen Formen von Liebe erfahren hat, wie ein fruchtbares Stück Erde den Segen ergiebigen Regens – hin zum wahren Geliebten seines Weges ziehen. Denn eine Gefahr liegt darin, zu große Nähe oder Vertrautheit zu jenen aufzubauen, die der Liebe nicht würdig sind; noch schlimmer jedoch ist es, wenn man unfähig wird, sich von ihnen zu trennen. Wäre Majnūn von seinem Verliebtsein in Layla derart gefesselt gewesen, dass er nicht über sie hätte hinausgehen können, wäre seine Liebe vergebens gewesen. Er wäre – so wie zahllose andere, die sich ganz den vergänglichen und relativen Formen der Liebe hingeben und ihnen verfallen – zunichte geworden.

Allāh der Erhabene ließ den ehrwürdigen Propheten Yūsuf, der zu den Trägern des Lichts Muhammads – Allāh segne sie beide und schenke ihnen Frieden – zählt, nicht zu Grunde gehen, als seine Brüder ihn in den Brunnen warfen. Ein von starkem Durst geplagter Reisender ließ, in der Hoffnung, in dem Brunnen Wasser zu finden, einen Eimer hinab. Als der ehrwürdige Yūsuf sich am Seil festhielt und mit dem Eimer zum Vorschein kam, vergaß der Reisende seinen Durst. Er war von der atemberaubenden Schönheit, auf die sein Auge fiel, vollkommen verwirrt. Doch in seiner Achtlosigkeit war er unfähig, die spirituelle Dimension dieser Schönheit zu erfassen. So blieb er dem rein Materiellen verhaftet und verkaufte Yūsuf für einen geringen Preis.

In eben dieser Weise verhält sich einer, der ganz von seiner Liebe zur äußerlichen Schönheit Laylas gefesselt ist und dadurch unfähig wird, sich dem Göttlichen zuzuwenden.

Dem Reisenden, der sein Seil mit dem Eimer hoffnungsvoll, mit dem sehnlichen Wunsch, Wasser zu finden, in den Brunnen hinabließ, eröffnete sich eine einzigartige Gelegenheit, als er in Anbetracht der unbeschreiblichen Schönheit des Propheten Yūsuf – auf ihm sei der Friede – das Wasser vergaß. Im Brennglas dieser Manifestation göttlicher Liebe, die ihm heller als das Sonnenlicht entgegenstrahlte, hätte er die Gelegenheit nützen können, alles vergängliche und relative, nutzlose Beiwerk für immer zu verbrennen. Welch ein Jammer für diesen verstandlosen Mann, dass er einzig und allein daran dachte, wie er mithilfe des ihm in die Hände gefallenen ehrwürdigen Yūsuf weltlichen Gewinn erlangen könnte. Auf diese Weise verspielte er eine einzigartige Chance.

Wir sind bemüht, den idealen Kurs zu beschreiben, den man einschlagen muss, um das größte Maß an wahrer Liebe und leidenschaftlicher Hingabe zu verwirklichen. Die verschiedenen Stadien der Liebe zu durchschreiten, ohne dabei in irgendeine Form von Anhaftung zu verfallen, ist für die überwiegende Mehrheit der gewöhnlichen Menschen ein Ding der Unmöglichkeit.

Diejenigen, die eine solche Stufe der Vollendung erreicht haben, sind äußerlich aufgrund eigener Willensanstrengung, innerlich jedoch durch die von Lie­be erfüllte Anziehungskraft ihrer Bestimmung dorthin gelangt. Sie gelangen in die Gegenwart ihres Herrn, indem sie, auf den unterschiedlichsten Wegen und mithilfe des ihnen verliehenen hohen Strebens, mehr oder weniger eine Stufe des Entwerdens von allem Vergänglichen erreichen. Am Ende steht dabei die Rückkehr zu ihrem Herrn – gleich einem Fluss, der im Meer mündet und damit sein eigenes Wesen und Dasein aufgibt – im Zustand des völligen „Entwerdens in Allāh [Fanā’ fī Allāh]“ und dem daraus resultierenden „Fortbestehen in Allāh [Baqā’ bi Allāh]“.[1] Dabei sollten wir uns bewusst sein, dass die Fähigkeiten unseres Verstandes engen Grenzen unterliegen – etwas anderes anzunehmen wäre reiner Wahnsinn! Die Grenzen des Herzens hingegen sind unendlich weit. Der Ruhepunkt wird im „Entwerden in Allāh“ und im „Fortbestehen in Allāh“ erreicht. Meister Jalāl al-Dīn Rūmī beschrieb in wunderbarer Weise, in welcher Gottesliebe er im Zustand des Fanā’ fī Allāh und Baqā’ bi Allāh brannte, und wie dies Feuer selbst nach seinem Tode nicht zu löschen sei:

Nach meinem Tode öffnet mein Grab, und schaut, wie der Rauch aus meinem Leichentuch aufsteigt! Was den Tod furchterregend erscheinen lässt, ist nur der Käfig des Körpers. Wenn du mithilfe der Liebe diesen – einer Muschelschale gleichenden – Körper durchbrichst, wirst du sehen, dass der Tod einer Perle gleicht!

Eine der wichtigsten speziellen Eigenschaften der Gottesfreunde besteht darin, dass sie ganz und gar von leidenschaftlicher Gottesliebe ergriffen sind. Maulānā Jalāl al-Dīn Rūmī war, wie seine obigen Worte deutlich machen, auf der Suche nach solchen in leidenschaftlicher Hingabe entbrannten Liebenden. Dies bringt er auch zum Ausdruck, wenn er sagt:

Ich suche einen leidenschaftlich Liebenden, dessen innere Flamme dem Jüngsten Tage gleicht und dessen Herzensglut das Feuer selbst zu Asche verbrennt!

Es gibt zwei Arten leidenschaftlicher Liebe [‘aschq]: die „sinnbildliche Liebe [‘aschq majāzī]“ und die „wirkliche Liebe [‘aschq haqīqī]“. Die Liebe zu allem Erschaffenen, und die damit verbundenen, weit verbreiteten Zustände von Abhängigkeit, Sucht nach oder Hingabe an Erschaffenes, das heißt, Liebe zu allem außer Allāh, fallen in den Bereich der „sinnbildlichen“ Liebe, während allein die tiefe, von Herzen kommende Liebe zu unserem Herrn, dem Pol aller Schönheit und Vollkommenheit, die Bezeichnung „wirkliche Liebe“ verdient.

Diejenigen, die den Spiegel ihres Herzens mit der wirklichen Liebe zu ih­rem Herrn blankgeputzt haben, erblicken darin in jedem Augenblick neue Widerspiegelungen von Schönheit, und sie werden zu Zeugen des Fließens der zahllosen Ströme göttlicher Macht. Ihnen offenbart sich die in ihrem Inneren verborgene wahre Bedeutung des Begriffs der {vorzüglichsten Gestalt}[2]. Denn sie sind nicht gefangen in jener Welt der Farben und Gerüche, deren sinnbildliche Schönheit uns umgibt. Sie sind weit über alle weltlichen Farben und Gerüche hinausgegangen, denn sie haben Gotteserkenntnis [ma‘rifat Allāh] erlangt. Sie haben alle äußerliche Zier hinter sich gelassen, sind zur absoluten Wirklichkeit vorgedrungen und leben dort in der Schau der göttlichen Unendlichkeit.

Der große Schleier zwischen Allāh und Seinen Dienern besteht nicht in der physischen Distanz zwischen Himmel und Erde, er besteht vielmehr in der Wahrnehmung des Egos, das sich selbst als von seinem Schöpfer getrennt existierend betrachtet. Aus diesem Grunde sagt Allāh, der Erhabene: {als Ich ihm von Meinem Geist eingehaucht hatte} (15:29), um die Menschen an jene edle Essenz zu erinnern, die Er selbst ihnen geschenkt hat.

Der Sultān der Gotterkennenden, ‘Abd al-Qādir al-Jīlānī, deutet die Allāh zugeschriebenen Worte „Ich bin das Geheimnis des Menschen […]“[3] als Erklärung dieses Zusammenhangs. Demnach können wir sagen, dass die göttlichen Schätze und Geheimnisse allesamt dem Menschen gewidmet sind, indem Allāh, der Allmächtige, in Seiner hocherhabenen göttlichen Existenz wünscht, von der geheiligten Daseinsform des Menschen erkannt zu werden. Wenn dieses große Potential und göttliche Geschenk an den Menschen durch die Liebe und leidenschaftliche Hingabe des Gläubigen zur Vollkommenheit heranreift, beginnt das Herz Schritt für Schritt die Welten der göttlichen Geheimnisse zu erfassen. Die Geheimnisse der Welt des Göttlichen, die Wirklichkeit der Dinge, die Mysterien des Menschseins und der Schöpfung werden ihm offenbar, und die Manifestation des reinen Herzens [qalb salīm][4] tritt im Gottesdiener zutage.

Wenn der Diener diese Reife erreicht hat, wird der Schleier der Achtlosigkeit, welcher ihn von Allāh trennt, für ihn gelüftet und der Diener erfasst das Geheimnis der Worte „Stirb, bevor du stirbst!“ Die Welt des Diesseits, all ihre vergänglichen Formen der Liebe und alle scheinbare Schönheit, verlieren in seinen Augen ihren Wert und verlassen sein Herz. Dann erfährt die Seele den unbeschreiblichen Genuss, sich ihrem Schöpfer nähern zu dürfen. Meister Yūnus Emre drückt das in seinen Worten so aus:

Die Sufis brauchen ihre Zusammenkunft,

die Bruderschaftler brauchen das Jenseits,

Majnūn braucht seine Layla,

doch ich brauche nur Dich, nur Dich!

Auf dieser spirituellen Rangstufe kann nichts das Herz des Suchenden beruhigen – außer der Gegenwart des Allerhöchsten! Einer der großen Gottesfreunde, der ehrwürdige ‘Azīz Mahmūd Hüdāyī, verleiht diesem Zustand leidenschaftlicher Gottesliebe Ausdruck, indem er ihn in folgenden Versen besingt:

Sehsüchtig nach der Größe und Vollkommenheit Allāhs,

kann nichts, wirklich nichts, das Herz erfreuen!

In inniger Begegnung will es getröstet werden.

Nichts, wirklich nichts, kann das Herz erfreuen!

Welcher Liebende fand denn den Geliebten?

Nichts nutzte sein Königreich dem Sulaymān,

die Liebe ließ ihn verwirrt zurück!

Nichts, wirklich nichts, kann das Herz erfreuen!

Weder im Rückzug, noch unter Menschen,

weder in der Menge, noch allein,

weder am Paradiesbaum Tuba, noch im Paradies.

Nichts, wirklich nichts, kann das Herz erfreuen!

Ob im Diesseits oder Jenseits,

ohne Dich zu erlangen, ist alle Liebe vergebens!

Was wirst du mit Hüdāyī tun, O Herr?

Nichts, wirklich nichts, kann das Herz erfreuen!

 

[1] Der Begriff Fanā’ fī Allāh bedeutet im Tasawwuf das dauerhafte Ausmerzen aller aus Allāhs Sicht unliebsamen Eigenschaften [al-akhlāq al-dhamīmah] aus dem Herzen und erfordert ein völliges Eliminieren aller vom menschlichen Ego [nafs] ausgehenden Begierden. Dies wird auch als Takhliyya bezeichnet, womit ein vollkommenes „Entleeren“ des Herzens von allem, was nicht hinein gehört, gemeint ist. Mit Baqā’ bi Allāh wird im Tasawwuf die dauerhafte Verinnerlichung der guten, von Allāh geliebten Eigenschaften im Herzen beschrieben, welche das Ergebnis vollkommener und beständiger Hingabe und Unterwerfung unter den Willen Allāhs ist. Dies wird auch als Tahliyya bezeichnet, womit eine andauernde „Verschönerung“ des Herzens mit guten Eigenschaften [al-akhlāq al-hamīda], die fest darin verwurzelt sind, beschrieben wird.

[2] So wie es im Qu’rān, 95:4, heißt: {Fürwahr, Wir haben den Menschen in der vorzüglichsten Gestalt erschaffen.}

[3] Fusūs ’l-Hikem Terc. ve Şerhi, I, 48.

[4] Siehe Qur’ān, 26:88-89: {An jenem Tage werden weder Besitz noch Nachkommen etwas nützen, sondern nur, wenn jemand mit einem reinen Herzen erscheint.}