Die Bedeutung rechten Verhaltens im Tasawwuf

Abū Dardā’, einer der Prophetengefährten – möge Allāh mit ihnen allen zufrieden sein – war in Damaskus zum Richter ernannt worden. Infolge dieser Tätigkeit hatte er schon viele Gesetzesbrecher gesehen. Eines Tages hatte er gerade den Fall eines Übeltäters verhandelt, das Urteil gesprochen und die Angelegenheit war eigentlich bereits abgeschlossen, als er hörte, wie die Anwesenden den Verurteilten verfluchten. Daraufhin fragte Abū Dardā’ die Leute, die jenen Mann verflucht hatten:

Was würdet ihr tun, wenn ihr einen Mann seht, der in einen tiefen Brun­nen gestürzt ist?“

Sie antworteten: „Wir würden ein Seil hinunterlassen, um ihn zu retten.

Abū Dardā’ fragte:

Wenn das so ist, warum bemüht ihr euch dann nicht, diesem Mann zu helfen, der in eine Grube von Sünden gestürzt ist?“

Überrascht von dieser Aussage fragten sie zurück:

Hasst du denn die Sünder nicht?“

Darauf antwortete der ehrwürdige Abū Dardā’ – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – mit folgenden weisen Worten:

Ich bin kein Feind dieses Menschen, sondern ein Feind seiner Sünden!“

Damit wollte Abū Dardā’ den Gläubigen eine wichtige Lehre vermitteln. Seine Weisheit ist eine Widerspiegelung des edlen Charakters des Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden. Die Prinzipien dieser Widerspiegelungen von Weisheit und gutem Charakter finden sich zusammengefasst in den grundlegenden Lehren des Tasawwuf wieder. Diese Art von Weisheit lässt den Sünder nicht im Pfuhl seiner Sünden untergehen, sondern sie eröffnet ihm die Möglichkeit der Reue und der Läuterung im Meer der Barmherzigkeit, Liebe und Ver­ge­bung. Selbst gegenüber Abū Jahl, seinem erbittertsten Gegner unter den Götzenanbetern, verhielt sich der Prophet – Segen und Friede seien auf ihm – in dieser Weise. Statt ihn zu strafen, indem er seine Fehler aufdeckte und ihn bloßstellte, lud er ihn immer wieder freundlich ein und versuchte, ihm den Weg zur Rettung und zur Reinigung von seinen Sünden im Meer der göttlichen Barmherzigkeit zu ebnen.

Allāh, der Allmächtige, erweist Seine grenzenlose Liebe und Barmherzigkeit all jenen, die Reue zeigen. Wenn ein Sünder aufrichtig bereut, vergibt Allāh ihm all seine Sünden und bereinigt seine Vergangenheit. Abhängig vom Grad der Aufrichtigkeit des Bereuenden verwandelt Allāh sogar dessen Sünden in gute Taten. Bezüglich jener, die sich Ihm in Reue zuwenden, sagt Allāh:

{[…] außer denjenigen, die voller Reue umkehren, glauben und recht­schaf­fene Werke tun; ihnen wird Allāh ihre schlechten Taten in gute ver­wandeln – und Allāh ist voller Vergebung, barmherzig.} (25:70)

Jene Menschen hingegen, die ihren Anteil an der göttlichen Liebe und Barmherzigkeit verschmähen, sind sich selbst und der gesamten Menschheit Feind. Sie versperren sich selbst den Weg zur Nahrung ihrer Seelen.

In vollkommenem Gegensatz dazu stehen die großen Gottesfreunde, welche die Quelle der Barmherzigkeit erreicht haben, wie zum Beispiel Jalāl al-Dīn Rūmī oder Yūnus Emre. Sie sind die Rosen des Paradieses, die von allen rechtschaffenen Menschen geliebt werden. Selbst unter den schrecklichsten Bedingungen verbreiten sie Hoffnung und heilen die Wunden der Gesellschaft. Wie schon erwähnt, sind dies Eigenschaften, die eigentlich allen Muslimen zueigen sein sollten. Scheikh ‘Abd Allāh Rūmī Eşrefoğlu beschreibt den Sufi-Weg so:

Um des Freundes willen sollte man fähig sein, Gift zu schlucken, als sei es Zucker.

Mahmud Sami Efendi – möge Allāh ihm barmherzig sein – gab ebenfalls ein gutes Beispiel für Barmherzigkeit und Liebe gegenüber sündigen Muslimen:

Eines Tages kam einer seiner Schüler, der unter Depressionen litt, zu seinem Haus und klopfte an die Türe. Er war vollkommen betrunken und sicher nicht in einem Zustand, in dem man an die Tür eines Scheikhs klopft. Derjenige, der ihm die Türe öffnete, wurde bei seinem Anblick zornig und runzelte die Stirn; dann fragte er: „Was tust du? Bist du dir nicht im Klaren, wen du hier besuchst?“ Der Bedauernswerte antwortete: „Gibt es irgendeinen anderen Ort, an dem ich so willkommen wäre, wie in dieses Haus?“ Meister Mahmud Sami hatte dieses Zwiegespräch mitgehört und kam selbst an die Tür. Er ließ den Schüler in den Palast der Spiritualität eintreten, tröstete ihn und half ihm, seine Probleme zu lösen. Dabei heilte er sein wundes Herz mit Barmherzigkeit und Liebe. Dieses gütige Benehmen half dem Mann, seine Schwierigkeiten zu überwinden; er bereute seine Sünden und wurde später zu einem spirituellen und frommen Menschen.

Die Einstellung der Sufis zu den Menschen ist grundsätzlich positiv und von wohlmeinender Freundlichkeit geprägt. Anstatt dessen Sünden zu betrachten und seine negativen Eigenschaften hervorzuheben, ist ein Sufi bemüht, die gute Essenz eines Menschen zu erkennen und die ihm angeborenen positiven Anlagen zu fördern. Diese Haltung sollte jedoch keineswegs zu dem falschen Schluss verleiten, Sufis würden sündhaftes Verhalten tolerieren oder gutheißen; das Gegenteil ist der Fall! Doch sie gehen mit Barmherzigkeit und Liebe auf den Sünder zu und bemühen sich, auf diese Weise sein Herz zu gewinnen, um ihm zu helfen. Für den Sufi ist der Sünder wie ein Vogel mit einem gebrochenen Flügel: Er löst bei ihm Empfindungen von Barmherzigkeit und Mitgefühl aus. Darum ist sein Ziel, dem Sünder zu helfen und seine verletzte Seele zu trös­ten. Dabei ist dies ein Bemühen um Allāhs willen; und wir sollten uns vergegenwärtigen, dass um Allāhs willen zu lieben und fürsorglich zu sein, einen der effektivsten Wege zur spirituellen Vervollkommnung darstellt.

‘Umar ibn al-Khattāb – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – berichtete Folgendes: Zu Lebzeiten des Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – gab es einen Mann namens ‘Abd Allāh, der unter dem Spitznamen Himār [„Esel“] bekannt war. Dieser hatte die Gabe, den Propheten zum Lachen zu bringen. Allerdings ließ der Prophet – Segen und Friede seien auf ihm – ihn auch mehrfach wegen Trunkenheit mit Peitschenhieben strafen. Eines Tages wurde er wieder wegen dieses Vergehens vor den Propheten gebracht und ausgepeitscht. Da rief einer der Anwesenden: „O Allāh, verfluche ihn! Wie oft hat man ihn jetzt schon wegen dieses Vergehens (vor den Propheten) gebracht!“ Doch der Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – sagte: „Verflucht ihn nicht, denn ich schwöre bei Allāh: Er liebt Allāh und Seinen Ge­sandten![1]

Das menschliche Wesen nimmt innerhalb der gesamten Schöpfung – allein aufgrund der Tatsache seines Mensch-Seins – eine solch hohe Stufe ein, dass auch schlimme Taten und schlechte Eigenschaften grundsätzlich nichts an dieser exklusiven Stellung ändern, denn jeder Mann und jede Frau tragen den göttlichen Atemhauch [nafkha] Allāhs in sich. Diese göttliche Essenz bleibt dem Menschen immer erhalten, wenngleich die meisten Sünder sich ihres Wertes und erhabenen Ranges innerhalb der göttlichen Ordnung nicht bewusst sind. Wenn zum Beispiel der schwarze Stein (der Ka‘ba) in den Schlamm gefallen wäre, gäbe es sicher keinen Muslim, der dies nicht bedauern und sich nicht beeilen würde, den schwarzen Stein an den heiligen Ort zurückzubringen, an den er gehört – sie würden ihn in der Tat mit ihren Tränen säubern und mit ihren Bärten polieren. Die Muslime entbieten dem schwarzen Stein den ihm gebührenden Respekt und lieben ihn, selbst wenn er mit Schmutz und Dreck bedeckt sein sollte, weil sie sich an seinen Ursprung erinnern und ihn deshalb wert­schätzen, denn er stammt aus dem Paradies. Das Gleiche gilt für die Menschen: Sie entstammen dem Paradies (durch unseren Vorvater Ādam und unsere Mutter Hawā’ – der Friede sei auf ihnen); und was auch immer sie an Sünden begehen mögen, diese göttliche Essenz wird sie niemals verlassen.

Auch ein guter Arzt wird niemals wütend über die Fehler seiner Patienten, selbst wenn deren Krankheiten durch Unwissenheit, Faulheit oder anderes Fehlverhalten bedingt sein mögen. Denn ein guter Arzt erkennt die Schmerzen und das Leiden seiner Patienten und übersieht geflissentlich deren Unzulänglichkeiten. Er behandelt die Kranken sogleich und tut alles in seiner Macht stehende für deren Genesung, ohne Zeit damit zu verschwenden, sich über die Patienten zu ärgern. Sufis sind innerhalb der Gesellschaft wie Ärzte, die in einem Krankenhaus Dienst tun: Wenn sie sehen, dass jemand von einer spirituellen Krankheit befallen ist, eilen sie herbei, um ihn zu behandeln, anstatt darüber zu klagen.

Der Sufi gleicht einem Rettungsring in einem spirituellen Sturm. Es ist ihm eine Pflicht und zugleich eine Freude, einem Ertrinkenden das Leben zu retten – auch dann, wenn dieser seine Lage selbst verschuldet hat. Der Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – sagte diesbezüglich im Anschluss an die Schlacht von Khaybar: „O ‘Alī, es ist besser für dich (was den göttlichen Lohn betrifft), einen einzigen Menschen zum Islam zu führen, als all das zu besitzen, worüber die Sonne auf- und untergeht!

Allāh, der Erhabene, verdeutlicht in dem bereits oben erwähnten Vers, wie bedeutsam die Errettung eines einzigen Menschen vor seiner Vernichtung in Seinen Augen ist: {Und wer ihm (einem Menschen) das Leben erhält, so ist es, als ob er der ganzen Menschheit das Leben erhal­ten hätte.} (5:32)

All dies ist eine Frage des Glaubens. Die schlimmste Sünde, die ein Mensch begehen kann, besteht darin, Allāh, dem Erhabenen, Partner beizugesellen oder Seine Existenz zu leugnen. Doch selbst die „Behandlung“ dieser Tod­sünde bedarf einer sanften Herangehensweise. Als Allāh, der Allmächtige, Mūsā – auf ihm sei Friede – zu Fir‘aun [Pharao] sandte, wies Er ihn an, diesem gegenüber sanfte und freundliche Worte [qaul layyin] zu benutzen. Jemanden mit Erfolg zum Islam einzuladen, ist für einen Gläubigen der schönste Erfolg und eine rechtschaffene Tat, die eine Brücke ins Paradies eröffnet.

Allāh, der Erhabene, war sich, was Fir‘aun anbelangt, durchaus der Hartnäckigkeit seines Unglaubens bewusst, als Er Mūsā – auf ihm sei Friede – befahl, gütig mit ihm umzugehen, doch Er wollte uns auf diese Weise lehren, wie wir uns zu verhalten haben, wenn wir den Islam präsentieren. Selbst wenn unser Gegenüber in seiner Feindschaft gegen den Islam so erbittert ist wie Fir‘aun, müssen wir versuchen, ihm den Islam in gütiger und höflicher Weise darzulegen. Wir dürfen uns deshalb in der Begegnung mit Nichtmuslimen nicht von eventuellen negativen Gefühlen leiten lassen oder gar unhöflich werden; Drohungen, Verwünschungen und ähnliche Verhaltensweisen entsprechen nicht dem islamischen Weg der Verkündigung der göttlichen Botschaft. Diese Tatsache hebt Meister Jalāl al-Dīn Rūmī in seinem Mathnawī hervor, wenn er sagt:

Verstehe Allāhs Worte zu Mūsā recht, wenn Er sagt: „Sprich in freund­licher Weise zu Fir‘aun und behandle ihn gütig!“ Denn wenn du Wasser auf heiß kochendes Öl gießt, beschädigst du den Herd und den Topf.

Im folgenden Vers spricht Allāh, der Erhabene, die Person des ehrwürdigen Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – in seiner Rolle als vollkommenes Vorbild für uns als Gemeinschaft der Muslime [umma] an:

{Und aufgrund der Barmherzigkeit Allāhs bist du (O Muhammad) milde zu ihnen; und wärest du schroff und hartherzig, hätten sie sich von dir abgewandt. So verzeih ihnen, bitte Allāh um Vergebung für sie, und be­ra­te dich in den Angelegenheiten mit ihnen! Wenn du dann einen Entschluss gefasst hast, vertraue auf Allāh – denn Allāh liebt diejenigen, die ganz auf Ihn vertrauen.} (3:159)

Unter den vielen Versen, die davon handeln, auf welche Weise man Menschen die Botschaft des Islam nahe bringen und sie dazu einladen soll, nimmt der folgende eine zentrale Bedeutung ein:

{Lade ein zum Wege deines Herrn mit Weisheit und schöner Ermahnung, und streite mit ihnen auf beste Weise. Wahrlich, dein Herr weiß am bes­ten, wer von Seinem Wege abgeirrt ist; und Er kennt am besten jene, die rechtgeleitet sind.} (16:125)

Diese Art von Toleranz und Freundlichkeit sollte natürlich nicht nur gegenüber den Sündern und Leugnern des Glaubens zum Tragen kommen, sondern auch im Umgang mit den Gläubigen. Wir alle sind Menschen, und selbst jene, die den Islam in der bestmöglichen Weise praktizieren, machen gelegentlich Fehler. Wenn wir uns bei dem Versuch, ein Fehlverhalten anderer zu korrigieren, harscher Worte bedienen, kann dies kontraproduktiv wirken. Anstatt ihr Verhalten zu bessern, könnte unser unhöfliches und grobschlächtiges Benehmen sie zu noch schlimmerem Fehlverhalten veranlassen. Der Mensch verabscheut von seinem Wesen her jede Art von grober Behandlung. Selbst Söhne und Töchter können rohen Umgang von Seiten ihrer Eltern nur schwer ertragen, und mancher gut gemeinte, weise Ratschlag wird dadurch nutzlos, dass er in respektloser Weise erteilt wurde.

Wir sollten deshalb nie die Empfindsamkeit der menschlichen Psyche außer Acht lassen, indem wir etwa einen Sünder respektlos oder unhöflich behandeln – ganz gleich, wie viele Sünden er begangen haben mag. Wir sollten ihn vielmehr in einer Weise behandeln, die ihn an seinen eigenen Wert erinnert, und die ihm hilft, seine gottgegebenen spirituellen Kräfte zu reaktivieren.

Allāhs Gesandter – Segen und Friede seien auf ihm – hat uns eindringlich davor gewarnt, uns einem Gläubigen gegenüber despektierlich zu verhalten. Er selbst verachtete niemals irgendjemanden wegen seines Zustands; und er sagte: „Es ist eine große Sünde, auf seinen muslimischen Bruder herabzublicken![2]

Um die Persönlichkeit und Integrität der Dienstboten zu wahren, gründete eine der Edelfrauen der Osmanen, die Mutter eines der Sultane namens Bezmi Ālem Vālide Sultan, in Damaskus eine Stiftung, deren Aufgabe allein darin be­stand, Entschädigungen für etwaige Schäden zu zahlen, die von den Hausange­stellten angerichtet wurden. Auf diese Weise muss­ten jene keine Schuldgefühle empfinden oder Strafe fürchten, wenn sie etwas beschädigt oder zerbrochen hatten.

Wenn wir die Botschaft des Islam verkünden oder Menschen helfen wollen, auf den rechten Weg zu gelangen, müssen wir stets Höflichkeit und Groß­herzigkeit gegenüber anderen üben, während alle Kritik, ebenso wie die Verantwortung für etwaige Fehlschläge, allein uns selbst treffen sollte. Allāh, der Allmächtige, sagt:

{Und es genügt, dass Er hinsichtlich der Sünden Seiner Diener allwissend ist.} (25:58)

Und in einem anderen Vers sagt Allāh, der Erhabene:

{O ihr, die ihr glaubt, haltet euch fern von vielen Vermutungen, denn wahrlich, manche Vermutungen sind Sünde! Und spioniert einander nicht nach, und sprecht nicht einer hinter dem Rücken des anderen! Oder wür­det ihr gerne das Fleisch eures toten Bruders essen? Ihr würdet es doch verabscheuen! So fürchtet Allāh – wahrlich, Allāh nimmt die Reue an und ist barmherzig!} (49:12)

Jene, die sich an diese Verse halten, werden zum Inbegriff von edlem Charakter und Tugend. Sie haben erkannt, dass diese Welt nicht wirklich vom Jenseits getrennt existiert, denn wir alle werden von hier nach dort hinüber gehen. Osmān Ghāzī, der Gründer des Osmanischen Reichs, war einer derjenigen, die nach den Anweisungen dieses Verses lebte. Sein spiritueller Meister, der ehrwürdige Scheikh Edeb ‘Alī, gab ihm eines Tages den folgenden Rat:

O mein Sohn! Du bist nun der Herrscher, und wir sind deine Untertanen. Dementsprechend ist es unser Recht, wütend zu sein; dir hingegen geziemt sich die Geduld!

Wir mögen gekränkt sein, du jedoch musst uns besänftigen. Wir mögen Anschuldigungen erheben, doch du musst duldsam sein.

Zu unseren Ei­gen­schaften gehören Unfähigkeit und Fehlerhaftigkeit, du hingegen musst To­le­ranz zeigen.

Disharmonie, Streit, Uneinigkeit und Missver­ständnisse sind unsere Sa­che, deine hingegen ist die Gerechtigkeit!

Unterstellungen, üble Nachrede und ungerechtfertigte Urteile sind uns zu Eigen, großzügiges Verzeihen ist dagegen dein Metier.

O mein Sohn! Von jetzt an ist die Zersplitterung unsere, die Versöh­nung hingegen deine Aufgabe!

Faulheit und Trägheit mögen unsere Eigenschaften sein, doch du musst motivieren, warnen und den Ausgleich zum Guten hin erwirken.

Diese Worte sind in der Tat unbezahlbare Ratschläge für alle Herrscher: Wenn sie schlecht behandelt werden, sollen sie um Allāhs willen vergeben; und unter allen Umständen müssen sie ihren Untertanen gegenüber Mitgefühl, Barmherzigkeit und Liebe an den Tag legen.

Wenn der Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – auf einen bestimmten Fehler hinweisen wollte, den jemand begangen hatte, pflegte er über diesen Fehler zu sprechen, ohne dabei direkt auf die Identität desjenigen, der ihn begangen hatte, hinzuweisen. Damit lehrte er seine Gemeinschaft, sich vor diesem Fehler zu hüten, ohne irgendjemanden persönlich zu verletzen. Er pflegte beispielsweise zu fragen: „Was ist mit mir, dass ich euch dies oder jenes tun sehe?“; ganz so, als ob er sich selbst den Fehler zuschreiben würde, die Dinge falsch gesehen zu haben.

Dies ist eine von den Sufis häufig benutzte Methode, um jemanden, der einen Fehler begangen hat, nicht bloßzustellen. Denn der Weg Allāhs, des Erhabenen, besteht darin, Herzen zu gewinnen und diese aufzubauen, und nicht darin, Herzen zu brechen. Der berühmte Sufi-Dichter Yūnus Emre erklärt dies in den folgenden Versen:

Das Herz ist Allāhs Thron:

Allāh schaut in das Herz.

Unglückselig in beiden Welten ist

derjenige, der ein Herz zerbricht!

Zu den wichtigsten positiven Eigenschaften eines wahren Gläubigen zählt die Bereitschaft, Fehler und Unzulänglichkeiten zu vergeben und schlechtem Benehmen mit vortrefflichem Verhalten zu begegnen. Ein wahrer Gläubiger betet selbst für das Wohlergehen und die Rechtleitung von Kriminellen und bittet um ihre Errettung in dieser Welt und im Jenseits durch reuige Umkehr zum Wege Allāhs. Der Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – zeigte in dieser Hinsicht das größte Maß an Barmherzigkeit und Mitgefühl für Übeltäter. Als die Bewohner der Stadt Tā’if ihn steinigten, bat er – anstatt um ihre Bestrafung zu beten – um Vergebung für sie. Er betete niemals zu Allāh um die Vernichtung derer, die ihm Schaden zufügten. Auch für die Bewohner Mekkas, die ihm die größte Feindschaft entgegengebracht hatten, bat er um Vergebung. Und infolge seiner Bittgebete wurden aus vielen Unterdrückern gute Muslime. Im Qur’ān heißt es dazu:

{Die gute und die schlechte Tat sind einander nicht gleich. Weise (die schlechte) ab mit dem, was besser ist, dann wird jener, zwischen dem und dir Feindschaft besteht, so, als wäre er ein warmherziger Freund.} (41:34)

Und unser ehrwürdiger Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – erklärte:

Tugend besteht nicht darin, demjenigen Gutes zu tun, der euch Gutes tut, und demjenigen Schlechtes anzutun, der euch Schlechtes antut! Wahre Tugend besteht vielmehr darin, denjenigen, die euch unterdrücken oder euch Schlechtes antun, nicht mit Schlechtem zu begegnen, sondern ihnen Gutes zu tun![3]

Wenn wir uns so verhalten, wie es in diesem Hadīth beschrieben ist, wird unser Feind zu unserem Freund. Wenn der Mensch, dem wir auf diese Art begegnen bereits zu unseren Freunden zählt, werden die Freundschaftsbande stärker und er wird uns anschließend umso näher stehen.

Die Menschen im Westen wenden sich heute mystischen Bewegungen zu, um inneren Frieden zu finden und den gnadenlosen Angriffen materialistischer Ideologien zu entkommen, weil der vom Materialismus geprägte Lebensstil die Menschlichkeit zu vernichten droht. Aus diesem Grunde ist es sinnvoller und einfühlsamer, die Prinzipien des Tasawwuf zu nutzen, um westliche Menschen zum Islam einzuladen. Viele der Menschen aus dem Westen, die den Islam angenommen haben, hatten sich zuvor mit den Werken Rūmīs und Ibn ‘Arabīs beschäftigt, um ihrem inneren Bedürfnis nach Spiritualität gerecht zu werden. In der Tat stehen einige Titel aus der Literatur des Tasawwuf ganz oben auf den Listen der im Westen meistgelesenen Werke. Deswegen sollten wir dem Ruf des ehrwürdigen Maulānā Rūmī folgen, der sagte:

Komm! Komm! Wer auch immer du bist; selbst wenn du ein Ungläu­biger, Feueranbeter oder Götzenanbeter bist. Unser Konvent ist kein Konvent der Hoffnungslosen; komm, selbst wenn du deinen Reue-Schwur hundert Mal gebrochen hast!

Wir brauchen dieses von Rūmī beschriebene, allumfassende Gefühl von Gnade und mitmenschlicher Verbundenheit. Sein Aufruf zur Toleranz zielt da­rauf ab, die Menschen mit ihrer verborgenen göttlichen Natur vertraut zu machen und sie durch die Erkenntnis der Barmherzigkeit und des Mitgefühls Allāhs zum Islam zu führen. Dabei meint Maulānā Rūmī mit diesen Worten keineswegs, man solle alle möglichen Fehler und Irrlehren, welche die Menschen vertreten, einfach akzeptieren und sie in diesem Zustand belassen, sondern sein Ziel besteht in einer Heilung durch Genesung der spirituellen Innenwelt der Menschen.

Die Herzen der großen Sufis sind mit Reparaturwerkstätten zu vergleichen, in denen gebrochene Herzen instand gesetzt werden. Dementsprechend richtet sich Rūmīs Ruf auch nicht in erster Linie an perfekte Muslime, sondern an die Umherirrenden und Achtlosen. Besonders in Zeiten, in denen das religiöse Leben schwach und die Menschen unwissend sind, brauchen wir bei unseren Bemühungen, Menschen zum Islam einzuladen, den Ansatz der großen Sufis: Selbstlose Liebe, Barmherzigkeit und Toleranz. Dies ist der einzig gangbare Weg zur Rettung jener vielen Menschen, die – geplagt von allen möglichen Formen seelischen Leids – im Meer ihres Ungehorsams gegenüber Allāh, dem Erhabenen, unterzugehen drohen.

Hierbei ist jedoch dringend zu beachten, dass solche Toleranz gegenüber sündhaftem Verhalten sich immer nur auf die persönliche Begegnung im Einzelfall beziehen kann. Wenn sich das Verhalten von Sündern hingegen auf die Gesellschaft auswirkt und deren Ordnung zunichte zu machen droht, ist Toleranz vollkommen unangebracht. Diejenigen, die andere Menschen unterdrücken oder die Strukturen der Gesellschaft um ihres eigenen persönlichen Vorteils willen zu zerstören trachten, verdienen weder unsere Liebe noch unsere Toleranz. Es ist auch keineswegs ausschließlich von Nachteil, wenn gewöhnliche Menschen Sünden und diejenigen, die als Sünder verschrien sind, verabscheuen. Sie versuchen, durch diese Art von starker Abscheu selbst den Sünden zu entfliehen; und dies ist ein für sie notwendiges Mittel, um sich von Sünden fern zu halten. Denn für die achtlosen Menschen gleichen Sünden den verlockenden Klängen des Gesangs der Sirenen, so dass sie sich von ihnen magisch angezogen fühlen, und ihr Begehen ihnen als etwas ganz Leichtes erscheint.

Das Begehen von Sünden als belanglos zu betrachten hat jedoch zweierlei schädliche Folgen: Die erste ist, dass man eher dazu neigt, sie zu begehen, die zweite, dass das Verharmlosen von Sünden Allāhs göttlichen Zorn heraufbeschwört. Das bedeutet für uns, dass wir zwar den Sünder akzeptieren dürfen, aber keinesfalls die Sünde selbst. Diese Zusammenhänge werden auch in einem Bericht des Anas ibn Mālik – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – deutlich, in welchem es heißt:

Der Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – sagte: ‚Macht die Dinge (in Bezug auf die Religion) leicht, und erschwert sie nicht! Und verkündet (den Menschen) frohe Botschaft, und bringt sie nicht dazu (vor dem Islam) wegzulaufen!‘“[4]

All dies sollte natürlich so geschehen, dass die Essenz der Religion keinen Schaden nimmt, sowie ohne vom geraden Weg der Rechtschaffenheit abzu­weichen!

O unser Herr, lass uns zu jenen gehören, denen Weisheit und göttliche Liebe zuteil werden! Mach Du unsere Herzen um Deinetwillen zu einem Quell der Liebe und Barmherzigkeit gegenüber Deiner Schöpfung! Ersetze all unsere Sünden und Unzulänglichkeiten durch Schönheit und göttlichen Lohn, lass die Menschen in Frieden und in gegenseitiger Liebe zusammenleben, und bewahre uns vor allen Formen von Unheil und Unglauben!

Āmīn!

 

[1] Überliefert in Sahīh al-Bukhārī.

[2] Überliefert von Abū Dāwūd in seinen Sunan und Ahmad in seinem Musnad.

[3] Überliefert in Sunan al-Tirmidhī, Kitāb al-Birr wa al-Sila.

[4] Überliefert in Sahīh al-Bukhārī.