Der Islam gibt der Menschheit neues Leben

Der ehrwürdige Prophet Muhammad – Allāhs Segen und Friede seien auf ihm – traf auf eine Gesellschaft, die von Gewalt, Unterdrückung und Anarchie geprägt war. Durch sein persönliches Verhalten, welches grenzenlose Barmherzigkeit und Liebe ausstrahlte, transformierte er eine von Hass und Rachsucht geprägte Gesellschaft in ein von Zuneigung und Fürsorge bestimmtes Gemeinwesen. Vor seinem Kommen waren die Menschen dazu erzogen worden, die Jungen und Schwachen zu missbrauchen und beim geringsten Anlass aufeinander loszugehen. Nachdem sie dem Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – begegnet waren, läuterten sich diejenigen, die solche Taten begangen hatten und gaben ihre grausame Haltung auf. Dieselben Menschen wurden nun zur Verkörperung von Barmherzigkeit und Liebe und entwickelten sogar die Fähigkeit, den Rest der Menschheit durch ihr beispielhaftes Verhalten rechtzuleiten. Wie Sterne, die in dunklen Nächten die Welt erhellen, spiegelten sie die Schönheit des Islam wider. Die folgende Geschichte des Mus‘ab ibn ‘Umayr – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – ist dafür ein Beispiel von vielen:

Mus‘ab und sein Freund As‘ad ibn Zurāra machten sich eines Tages zu den Stämmen der ‘Abd Aschhal und Zafar auf, um diese zum Islam einzuladen. Die Anführer dieser beiden Klans waren Sa‘d ibn Mu‘ādh und Usayd ibn Hudayr. Sa‘d fragte Usayd: „Warum hinderst du diese Individuen nicht daran, hierher zu kommen und die Einfältigen und Armen unserer Leute zu betrügen?“

Daraufhin ging Usayd auf Mus‘ab und As‘ad ibn Zurāra los, zielte mit seinem Speer auf sie und schrie: „Wenn euch euer Leben lieb ist, dann verschwindet auf der Stelle von hier!

Anstatt wütend zu reagieren, antwortete Mus‘ab ihm: „Wenn du dich beruhigst und mir zuhörst, habe ich eine Botschaft für dich. Du bist ein Mann von hoher Intelligenz und Weisheit; wenn dir gefällt, was ich dir zu sagen habe, kannst du es akzeptieren, wenn nicht, steht es dir frei, alles, was ich zu sagen habe, abzulehnen.

Usayd stimmte diesem Vorschlag zu und legte seinen Speer beiseite. Nachdem er Mus‘abs wunderbare Darlegung des Islam gehört hatte, nahm er auf der Stelle den Islam an. Dann kehrte er zu seinem Freund Sa‘d zurück und sagte: „Ich habe mir angehört, was sie zu sagen haben und habe an ihren Worten nichts Falsches finden können.

Doch Sa‘d war nicht zufrieden mit der Zustimmung, die sein Freund den ungebetenen Gästen gegeben hatte; und so ging er selbst mit halb gezücktem Schwert zu ihnen hin und forderte sie auf zu gehen.

Ebenso wie zuvor antwortete Mus‘ab ihm nicht mit harten Worten, sondern begegnete der angespannten Situation voller Frieden mit freundlichen Worten, wobei er ihm mit tiefer Weisheit die Wirklichkeit des Islam präsentierte. Und genau wie zuvor sein Freund Usayd nahm auch Sa‘d, unter dem Einfluss der gott­gegebenen Anziehungskraft der Botschaft, die ihm gerade zuteil geworden war, den Islam an.

Dies ist ein Beispiel dafür, wie die Araber im Prozess der Annahme des Islam ihren aggressiven Charakter verloren, und wie sie durch das Verhalten des Propheten Muhammad – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – transformiert wurden. In der Folge kultivierten die Araber schließlich die höchste Stufe an Geduld und Reife. Sie erkannten, dass der Islam gekommen war, um die Menschen zu einem neuen Leben zu erwecken, und nicht, um sie zu vernichten. Sie schrieben mit goldenen Lettern die folgenden Worte in die Annalen der Geschichte: „Erwecke diejenigen, die kommen, um dich zu töten, zu neuem Leben!“ Und Meister Jalāl al-Dīn Rūmī merkt dazu an:

Wenn die Meere der Barmherzigkeit wogen, trinken selbst die Steine vom Wasser des Lebens, und der Erdboden verwandelt sich in Satin und in einen mit Gold durchwirkten Teppich.

Derjenige, der hundert Jahre tot war, kommt aus dem Friedhof hervor; selbst der verfluchte Schaytān verwandelt sich in eine Schönheit, die von den Paradiesjungfrauen beneidet wird.

Die ganze Erdoberfläche ergrünt, vertrocknetes Holz schlägt wieder aus und trägt Blüten, der Wolf wird zum Trinkgefährten des Lammes, und die Verzweifelten werden mutig und tapfer.[1]

Der Prophet Muhammad – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – vergab vielen Kriminellen, die ansonsten hingerichtet worden wären. Er vergab sogar Wahschī, der seinen geliebten Onkel Hamza – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – getötet hatte. Die Barmherzigkeit und Liebe des Propheten – Segen und Friede seien auf ihm – zu den Menschen waren stets stärker als sein Zorn. Wut und Hass vieler Menschen schmolzen in der Gegenwart des Propheten angesichts seiner überströmenden Liebe dahin und wurden in Rosengärten der Barmherzigkeit verwandelt.

Ein türkischer Dichter beschrieb die unglaubliche Wildheit der arabischen Gesellschaft vor dem Kommen des Prophe­ten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – mit den Worten: „Hätte nicht jeder Mensch Zähne gehabt, hätten seine eigenen Brüder ihn verschlungen.“ Damit ist gemeint, dass die Menschen selbst gegenüber jenen, die ihnen am nächsten standen, keinerlei Barmherzigkeit empfanden. Erst der Islam rettete die Menschheit aus dieser abgrundtiefen Unwissenheit und Brutalität. Die einstmals grausamen Menschen dieser Gesellschaft wurden so von Mitgefühl durchdrungen, dass sich während der Schlacht von Yarmūk, als einige von ihnen schwer verwundet waren, folgende Situation ereignete: Als den Verwundeten, die in der glühenden Sonne im Sterben lagen, Wasser angeboten wurde, bat jeder von ihnen, als er an der Reihe war, das Wasser dem Nächsten zu geben. So weigerten sie sich alle, als Erster, vor den anderen zu trinken, bis schließlich alle gestorben waren, bevor auch nur einer von ihnen seinen Durst gestillt hatte.

Der Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – führte stets die Karawane der Liebe und Barmherzigkeit an und lebte unaufhörlich moralisches Verhalten in seiner höchsten Vollendung vor, so dass sowohl Freunde als auch Gegner gleichermaßen die Vorbildlichkeit seines Charakters anerkannten. Als sich im vergangenen Jahrhundert in Den Haag Gelehrte und Denker zu einem Kongress versammelten, um die einhundert wichtigsten Persönlichkeiten der Menschheitsgeschichte zu bestimmen, führte am Ende, entsprechend den von ihnen selbst festgelegten Kriterien, der Prophet Muhammad – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – ihre Liste an.

Dabei ist noch als interessant an­zumerken, dass das auswählende Komitee ausschließlich aus Christen bestand. Ebenso aufschlussreich ist die bemerkenswerte Tatsache, dass 90% der Prophetengefährten den Islam deshalb annahmen, weil sie die Erhabenheit des vorbildlichen Charakters und Verhaltens des Propheten – Segen und Friede seien auf ihm – erkannten. Selbst seine erbittertesten Widersacher konnten ihm niemals vorwerfen, er sei ein Lügner oder Tyrann; auch sie konnten deshalb nicht umhin, ihn gezwungenermaßen respektvoll zu würdigen.

Diejenigen, deren Herzen für den Islam schlagen und die gerne im Dienst der Religion aktiv werden möchten, müssen wissen, dass das vordringlichste Ziel ihrer heiligen Aufgabe darin besteht, der Menschheit neues Leben zu geben. Nur derjenige, der fähig ist, die Schönheit der Schöpfung Allāhs, des Erhabenen, in jedem menschlichen Wesen zu erkennen, und sich bewusst ist, dass Allāh den Menschen als kostbarstes Wesen Seiner gesamten Schöpfung erschaffen hat, kann dem Islam und der Menschheit in dem von Allāh gewünschten Sinne dienen. Mit anderen Worten: Das Ideal des Islam besteht darin, ideale Menschen hervorzubringen. Dieses Ideal kann nur dann erreicht werden, wenn das Herz des Menschen berührt und zu neuem Leben erweckt wird und die da­rin verborgene spirituelle Schönheit wieder zum Vorschein kommen kann.

Aus diesem Grunde hat der Islam immer die spirituelle Erziehung der Muslime als oberste Priorität betrachtet; und im Verlauf ihrer Geschichte hat diese Gemeinschaft viele bedeutende Persönlichkeiten hervorgebracht, die von allen Menschen – unabhängig von ihrem Glauben – anerkannt und bewundert wurden. Durch das Vorbild und die Lehren des Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – wurde aus Menschen, die bis dahin ganz unter der Kontrolle ihres Egos gestanden und ein von animalischen Trieben bestimmtes Leben geführt hatten, engelsgleiche Sterne, welche die Augen jedes Betrachters mit ihrer strahlenden Helligkeit blendeten. ‘Umar ibn al-Khattāb zum Beispiel – möge Allāh mit ihm zufrieden sein –, der vor dem Islam seine Tochter lebendig begraben hatte, wurde zu einem Born der Barmherzigkeit und des Mitgefühls, sodass er nicht einmal mehr einer Ameise etwas zuleide tun konnte.

Der Islam repräsentiert einen Geist, welcher die Menschheit mit Liebe und Barmherzigkeit umfängt. Durch die Samenkörner dieser grenzenlosen Barmherzigkeit, die er in die Herzen der Menschheit gesät hat, wurden Menschen auf eine Stufe emporgehoben, die es ihnen ermöglichte, über ihr eigenes begrenztes und schwaches Wesen hinauszugehen. Sie wurden fähig, das ewige Leben zu erreichen.

Der Islam kam, um den Menschen neues Leben zu geben. Die Gefühle und Empfindungen, die der Islam lehrt, stellen die Quintessenz des Menschseins an sich dar. In den Worten des berühmten türkischen Sufi-Meisters und Dichters Yūnus Emre liest sich dies so:

Lasst uns einander Freunde sein!

Lasst uns die Dinge leicht machen!

Lasst uns lieben und die Liebe anderer erwerben,

denn keiner bleibt für immer in dieser Welt.

Ich kam nicht, um zu missionieren,

ich kam um der Liebe willen;

das Haus des Geliebten sind die Herzen,

ich kam, um Herzen zu gewinnen.

Diejenigen jedoch, welche den ihnen bestimmten Anteil an göttlicher Liebe und Barmherzigkeit nicht in ihren Seelen eingebunden haben, werden zu Feinden sowohl der Menschheit als auch ihrer eigenen Seelen. Solch unbarmherzige Menschen verbauen sich selbst den Weg zur Nahrung und Erfüllung ihrer Seelen. Die großen Gottesfreunde, die am Quell der Barmherzigkeit angelangt sind – wie Maulānā Jalāl al-Dīn Rūmī oder Yūnus Emre – werden hingegen von allen als „Rosen des Paradieses“ geliebt. Selbst in den schlimmsten Situationen sind sie fähig, Hoffnung zu verbreiten und die Wunden der Gesellschaft zu heilen. Die Eigenschaften der Rose gehören zu den wichtigsten Qualitäten, die ein Muslim verkörpern sollte: Umgeben von spitzen Dornen verbreitet sie ihren wun­derbaren Duft. Ein wahrhaft Gläubiger sollte nicht die Eigenschaften der Dornen annehmen, sondern der Blüte gleichen, die nach langen Wintermonaten erblüht. Der ehrwürdige Maulānā Rūmī sagt:

O du, der du im Diesseits Dornen säest, komm zu dir! Suche bloß nicht in den Rosengärten der Nachtigallen nach den Dornen, die du gesät hast! Lade nicht deine eigenen Fehler dem Rosengarten auf![2]

Und an anderer Stelle sagt Rūmī:

Mit welchem Verstand erdreistest du dich, im Antlitz des Mondes Flecken und Mängel zu entdecken, im Paradies Dornen zu sammeln!

O, der du nach Dornen statt nach Rosen suchst. Wenn du ins Paradies eintreten könntest, würdest du dort keinen Dorn finden außer dir selbst![3]

Unsere erhabenen Vorfahren, die Osmanen, pflegten ihre Kriegsgefangenen stets mit solcher Milde und derartig großem Mitgefühl zu behandeln, dass einmal ein gefangener feindlicher Offizier bemerkte: „O Barmherzigkeit, was für ein Tyrann du doch bist, dass du mich dazu bringst, meine Feinde lieben zu müssen!

Es ist höchst bedauerlich, dass heutzutage gewisse Kreise von Materialisten und Feinden des Glaubens versuchen, den Islam mit Terrorismus in Verbindung zu bringen oder gar gleichzusetzen. Dies ist eines der schrecklichsten Übel, das die Menschheit je erlebt hat! Terror und Anarchie sind Folgen fehlender Liebe und Barmherzigkeit; ihre Grundlagen sind Herzlosigkeit und die Unfähigkeit, erhabene Charaktereigenschaften und Empfindungen zu verwirklichen. Der Islam hingegen lehnt – seit seinem Anbeginn – jegliche Art von Terror und Anarchie grundsätzlich ab und gebietet, die Rechte aller – Muslime und Nichtmuslime gleichermaßen – zu respek­tieren.

Der Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – pflegte Abgesand­te zu den verschiedenen Stämmen zu senden, die am Islam interessiert waren, um diese zu unterrichten. Als einmal die Ungläubigen an einem Ort namens Bi’r Ma‘ūna siebzig dieser Gelehrten töteten, befahl der Prophet, künftig sollten diese Lehrer von Bewaffneten begleitet werden, denen jedoch ausdrücklich befohlen war, ihre Waffen ausschließlich zu deren Verteidigung einzusetzen.

Bei einer Gelegenheit kam es jedoch dazu, dass Khālid ibn Walīd – möge Allāh mit ihm zufrieden sein –, der eines der Bataillone anführte, sich gezwungen sah, entgegen dieser Anordnung von den Waffen Gebrauch zu machen. Als der Gesandte Allāhs – Segen und Friede seien auf ihm – von diesem Vorfall hörte, wandte er sich voller Trauer der Gebetsrichtung zu und sagte: „O mein Herr, ich habe nichts mit dem zu tun, was Khālid getan hat, und ich bin nicht einverstanden damit!“ Und er wiederholte diese Worte drei Mal. Anschließend entsandte er ‘Alī – möge Allāh mit ihm zufrieden sein –, um dem betreffenden Stamm Wiedergutmachung zu zahlen, wobei er nicht nur für den Schaden, der Menschen zugefügt worden war, sondern auch für die Tiere, einschließlich der verletzten Hunde des Stammes, Entschädigungen zahlte.[4]

Die Osmanen übernahmen die hohen moralischen Maßstäbe des Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – im Umgang mit Nichtmuslimen und zwangen niemals jemand von ihnen, den Islam anzunehmen. Sie versuchten weder, andere Völker auszurotten, noch deren Kultur durch impe­ri­a­listisches Verhalten und Unterdrückung zu vernichten. Sie betrachteten die in ihrem Gebiet lebenden Nichtmuslime stets als Mitmenschen, deren Rechte sie zu respektieren und zu schützen hatten. Aufgrund des Segens dieser Umgangsformen benutzen die Menschen in Lehistan [Polen] bis in unsere Zeit das Sprichwort: „Dieses Land wird keine Freiheit und Unabhängigkeit erleben, bis die Pferde der Osmanen aus der Weichsel trinken.“ In der Tat zogen unterdrückte Bevölkerungen anderer Nationen häufig die Herrschaft der Osmanen der ihrer eigenen Herrscher vor. Als die Osmanen unter Sultan Muhammad al-Fātih die Stadt Byzanz belagerten, schlugen einige Adlige vor, den Papst um Bei­stand zu ersuchen, woraufhin der Großherzog Notaras äußerte: „Bevor ich die Mitras der Kardinäle in dieser Stadt sehen müsste, wären mir die Turbane der Osmanen lieber!

Wir müssen – um der Manifestation unseres Herrn durch Seine beiden göttlichen Namen al-Rahmān und al-Rahīm willen – allen Geschöpfen Allāhs mit Mitgefühl begegnen, und zwar nicht aus politischen Gründen, sondern um Sein Wohlgefallen zu erlangen! Dies ist in der Tat eines der wirksamsten Mittel um Gottesnähe zu erreichen.

Die folgende Geschichte ist ein schönes Beispiel für den Grad an Barmherzigkeit, den wahrhaft Gläubige für die Geschöpfe Allāhs empfinden:

Der ehrwürdige Abū Yazīd al-Bistāmī hatte während einer Reise unter einem Baum Rast gemacht, etwas gegessen und dann seine Reise fortgesetzt. Eine Weile später entdeckte er eine Ameise, die auf seiner Tasche umher krabbelte und sagte betrübt: „Ich habe dieses Wesen von seinem Heimatort entführt!“ Sofort kehrte er zurück an den Platz, wo er sein Essen zu sich genommen hatte, und ließ die Ameise dort, an ihrem Heimatort, laufen. Denn er war – in dem Bewusstsein des „Mitgefühls um Allāhs Willen“ – in einem Zustand, in dem ihm die Bedeutung der Einhaltung der Rechte jedes Geschöpfes, selbst wenn es sich um eine Ameise handelte, bewusst war.

Der Islam, der selbst Tieren ein derartiges Maß an Feingefühl und Empfind­samkeit entgegenbringt, betrachtet den Menschen als edelstes aller Wesen. Um dieses kostbare Wesen zu bewahren und zu verhindern, dass der Mensch ins Elend stürzt, ist der Islam deshalb bemüht, ihn zum Erreichen erhabener Stufen anzuhalten. Dies ist jedoch nur möglich, wenn der Mensch sein spirituelles Potential voll entfaltet – so dass selbst die Engel ihn beneiden – anstatt ständig nur sein Nafs zu „füttern“, wodurch er leicht auf eine Stufe unterhalb derer der Tiere hinab­sinken kann.

Dass unsere heutige Welt zur Bühne Tausendundeiner Formen von Unterdrückung und Anarchie geworden ist, ist zweifellos eine Folge davon, dass die Menschen sich im exzessiven Ausleben der Neigungen ihrer Egos gerade von jenen Charaktereigenschaften immer weiter entfernt haben, die – wie das leidenschaftliche Sehnen nach dem Göttlichen und die uneigennützige Liebe – den Menschen erhabene Stufen erreichen lassen. In dieser Situation besteht die einzige Rettung für die in zahllosen Strudeln des Elends untergehenden Menschen darin, die Wahrheit und Tiefe des Islam umfassend zu verstehen, von ganzem Herzen auf den göttlichen Ruf Allāhs zu hören, und die Vergänglichkeit des diesseitigen Lebens – mit all seinen Verlockungen und all seinem Glanz – zu er­kennen. Denn diese Welt ist nicht mehr als eine Vorbereitung auf das ewige Leben im Jenseits.

Der ehrwürdige Meister Yūnus Emre, der wahrhaft durch und durch vom leidenschaftlichen Sehnen nach dem Göttlichen erfüllt war, sagt in einem seiner berühmten Verse: „Liebe die Schöpfung Allāhs um ihres Schöpfers willen!Sind nicht diese Worte, die alle Geschöpfe umfassen, ein vorzüglicher „Rettungsring“ für alle Unterdrücker und Anarchisten – wo immer auf der Welt sie auch sein mögen –, der ihnen einen Plan für die Rettung in dieser Welt und im Jenseits anbietet? Wenn diese Menschen nur einen winzigen Bruchteil jener Liebe empfinden könnten, die Yūnus Emre für die gesamte Menschheit empfand, wären sie unfähig, die schrecklichen Verbrechen zu begehen, die sie begangen haben. Wenn sie nur fähig wären, sich diesen einen Vers zu Herzen zu nehmen, würden sie mit Empfindungen der Liebe und dem Bedürfnis nach Gerechtigkeit gesegnet, anstatt der dunklen Seite ihres Egos zu verfallen.

Wir müssen deutlich machen, dass der Islam nicht für die politischen Ziele einiger Leute missbraucht werden darf! Deshalb sollten wir klar unterscheiden zwischen wahrhaft religiösen und frommen Menschen auf der einen Seite, und jenen, die die Religion zur Erreichung ihrer üblen persönlichen Ziele benutzen wollen, auf der anderen.

In der Geschichte des Islam haben wir Gruppierungen wie die Khawārij gesehen, die im Namen des Islam unschuldige Menschen töteten, und deren Ziel einzig und allein darin bestand, die politische Macht an sich zu reißen. Ebenso haben wir in der Vergangenheit erlebt, dass Staaten den Islam benutzt haben, um ihre üblen Ziele zu rechtfertigen. Üble Menschen benutzen die wertvollen religiösen Empfindungen und erhabenen Konzepte der Religion, um ihre persönlichen Interessen durchzusetzen, und sie verleumden damit sowohl die Religion als auch die religiösen Menschen. Doch, wie Maulānā Rūmī deutlich macht, werden sie dafür einen hohen Preis zahlen müssen:

Die meisten Menschen sind wie Raubtiere; trau ihnen nicht, wenn sie dich mit „der Friede sei auf dir“ grüßen!

Ihre Herzen sind Wohnstätten des Teufels; höre nicht auf das Geschwätz teuflischer Männer!

Derjenige, der „lā haula“ vom Atem des Teufels verschluckt wie ein Esel, fällt kopfüber in der Schlacht![5]

Und Rūmī fährt fort, die reinen Herzen der Unschuldigen vor den Gefahren solcher Übeltäter zu warnen:

Er äußert nur leere Worte, der zu dir sagt: „O mein Geliebter“, um dann, wie ein Metzger, seinem Geliebten das Fell über die Ohren zu ziehen.

Er benutzt leere Worte, um dir dein Fell abzuziehen; Oh wehe dem, der von seinen Feinden Opium zu schmecken bekommt![6]

Herzlose Terroristen benutzen Humanität als Maske für ihre unbarmherzigen Herzen, die niemals göttliche Liebe geschmeckt haben. Wenn solche Menschen Ideologen wären, würden sie schmutzige Ideologien verbreiten; wenn sie Dichter wären, würden sie die Seelen anderer Menschen vergiften; und wenn sie Moralisten wären, würden sie Unmoral propagieren. Maulānā Rūmī enthüllt das wahre Wesen dieser Art von Leuten mit den Worten:

Wenn er eine Rose in die Hand nimmt, verwandelt sie sich in Dornen, und wenn er zu einem Freund geht, beißt er ihn, wie eine Schlange.[7]

Kurz gesagt sind solche Menschen Seelenmörder. Sie ergötzen sich daran, die Augen der Menschen blind zu machen und deren Empfindsamkeit zu lähmen. Indem sie sich aller möglichen inhumanen Methoden wie beispielsweise Drogen bedienen, verwandeln sie Menschen in gnadenlose Bestien. Anstatt echte menschliche Logik und Verstand zu benutzen, provozieren sie nur Emotionen von Rache und fordern die aggressive Seite der Menschen heraus. Seit Anbeginn der Geschichte sind diese Verführer die schlimmsten Feinde der Menschheit gewesen. Allāh, der Allmächtige, beschreibt ihre Haltung mit den Worten:

{Und wenn ihnen gesagt wird: „Richtet auf Erden kein Verderben an!“, sagen sie: „Wir sind doch die, die Gutes tun.“ Doch mit Gewissheit sind sie die Verderben Stiftenden, doch sie bemerken es nicht.} (2:11-12)

Niemand kann sich erdreisten, zu behaupten, es sei eine religiöse Handlung, Zivilisten abzuschlachten; und niemand kann dieses Tun mit Jihād verwechseln! In Wirklichkeit haben jene, die auf solche Weise die Religion zur Verwirklichung ihrer üblen Pläne benutzen, das Wohlgefallen Allāhs, des Erhabenen verspielt. Die schwerwiegenden Konsequenzen ihres Verhaltens zeigt Allāh, der Allmächtige, im folgenden Vers auf:

{Deshalb haben Wir den Kindern Isrā’īls vorgeschrieben, dass, wenn jemand einen Menschen tötet – weder als Vergeltung für einen getöteten Menschen noch wegen des Anrichtens von Verderben auf Erden –, dies so ist, als hätte er alle Menschen getötet; und wer ihm (einem Menschen) das Leben erhält, so ist es, als ob er der ganzen Menschheit das Leben erhal­ten hätte. Und gewiss kamen bereits Unsere Gesandten mit deutli­chen Zeichen zu ihnen, doch dennoch überschreiten viele von ihnen auf Erden auch danach das Maß!} (5:32)

Der Heilige Qur’ān betrachtet das Töten eines einzigen unschuldigen Menschen als ebenso schwerwiegend, wie das Töten der gesamten Menschheit, denn ein solcher Mörder greift mit seinem Tun tatsächlich die unverletzliche Heiligkeit menschlichen Lebens selbst an. Wenn jemand einen Unschuldigen umbringt, dann impliziert dies, dass er ebenso die gesamte Menschheit zu seinem persönlichen Vergnügen töten könnte. Mit einer solchen Tat gibt er zudem anderen ein Beispiel, das diese nachahmen könnten, und ermutigt damit geradezu zum Mord. Aus diesen Gründen ist das Töten eines Unschuldigen eines der größten Verbrechen im Islam, und wer eine solche Tat begeht, zieht den unerbittlichen Zorn Allāhs im Jenseits auf sich. Wer hingegen ein Leben rettet, ein Verbrechen verhindert oder Ursachen beseitigt, die zu Mord oder Totschlag führen könnten, der wird betrachtet, als habe er die gesamte Menschheit gerettet.

Maulānā Rūmī vergleicht in diesem Zusammenhang den Islam mit dem „Wasser des Lebens“, indem er sagt: „Niemand starb je an den Gestaden des Wassers des Lebens.[8]

Alle Regeln und Prinzipien des Islam zielen darauf ab, menschliches Leben zu bewahren – sowohl im physischen wie auch im spirituellen Sinne. Unter allen Umständen leitet der Islam die Menschheit zu richtigem Glauben und rech­tem Verhalten und kultiviert im Menschen die Empfindungen der Barmherzigkeit, der Liebe zum Dienst an der Menschheit, die Liebe zur Weisheit, sowie Güte und Respekt gegenüber allem, was gerecht ist.

Ganz besonders im heiligen Monat Ramadān unterstützt der Islam die Gläu­bigen mit einer speziellen spirituellen Atmosphäre. Während dieses Mo­nats genießen die Muslime die Privilegien des Fastens, der Tarāwīh genannten zusätzlichen Gebete in der Nacht, und der Großzügigkeit gegenüber den Bedürftigen. Durch das Fasten werden jene Arterien, die von den Krankheiten der Unbarmherzigkeit verstopft sind, geöffnet und gereinigt, und die Herzen wenden sich den Schwachen, Bedürftigen und Einsamen zu.

Der Ramadān ist ein Monat der Barmherzigkeit. Wenn ein Muslim sich bemüht, seine Barmherzigkeit zu stärken, kann er seinen Islam mit größerer Tiefe an Erfahrungen praktizieren, indem er seinem niederen Verlangen Zügel anlegt und versucht, dieses unter Kontrolle zu bringen. Im Verlauf dieses Prozesses wird die Seele verfeinert und empfindsamer für göttliche Eröffnungen. Die Früchte der Barmherzigkeit sind Vergebung, Großzügigkeit und Schamhaftigkeit. Während wir anderen zu Diensten sind, lernen wir schrittweise unsere Eifersucht aufzugeben. All diese schwer zu erwerbenden Errungenschaften sind im heiligen Monat Ramadān leichter zugänglich. Unsere Seelen gehen über ihre Grenzen hinaus, während wir mit allen Kräften bemüht sind, dem göttlichen Befehl gerecht zu werden und unsere Fürsorge auf die ganze Menschheit auszudehnen. Und indem wir in diesem universellen Geist der Bereitschaft dienen, strebt unsere Seele danach, zur Vollkommenheit ihres Herrn zu gelangen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wahres Glück aus der Sicht des Islam sowohl vom Glauben an die Einheit Allāhs, des Erhabenen, als auch vom Verrichten verdienstvoller Taten abhängt. Wahrhaft gläubige Muslime widmen ihre Herzen und ihre Gedanken ganz und gar Allāh, während sie ihr Leben im Dienste der Menschheit verbringen und auf diese Weise lernen, ein tugendhaftes Leben zu führen. Der ehrwürdige Meister Jalāl al-Dīn Rūmī beschreibt diese Lebenseinstellung mit den Worten:

Welch Glück ist dem Hässlichen beschieden,

dass der Schönste der Schönen ihm Gesellschaft leistet.

Wie schade um den mit dem rosigen Antlitz,

dem einer so kalt wie der Winter zum Freunde ward.[9]

 

O mein Herr, mach Du uns das Diesseits und das Jenseits zu einem Hort der Glückseligkeit, durch die Schönheit des Islam; und beschütze Du die Gemeinschaft der Muslime vor jeder Art von Unglück und Katastrophen!

Āmīn!

 

[1] Mathnawī, Bd. V, 2282-85.

[2] Mathnawī, Bd. II, 153.

[3] Mathnawī, Bd. II, 3347-48.

[4] Vom Autor zitiert aus Islam Tarihi, Bd. I, 525-27.

[5] Mathnawī, Bd. II, 251-53.

[6] Mathnawī, Bd. II, 258-59.

[7] Mathnawī, Bd. II, 154.

[8] Mathnawī, Bd. VI, 4218.

[9] Mathnawī, Bd. II, 1341.