Al-Istiqāma – Rechtschaffene Beharrlichkeit auf dem Wege Allāhs 2 - 3

So ist der Sirāt al-mustaqīm der Weg der von Allāh mit Seiner Gunst gesegneten, auserwählten Gottesdiener; an erster Stelle der Propheten, dann der Wahrhaftigen, der Märtyrer und Rechtschaffenen, sowie all derer, die ihnen nach­folgen.

Dieser gerade Weg der Rechtschaffenheit ist an keiner Stelle abschüssig, schief oder krumm, sondern stets eben und vollkommen gerade. Der gerade Weg der Rechtschaffenheit ist der Weg zu Allāh, dem Herrn der Wahrheit. Wie es in einem Vers des Edlen Qur’ān, an den Propheten – Segen und Friede seien auf ihm – gerichtet, heißt:

{Und wahrlich, du leitest recht zum geraden Weg der Rechtschaffenheit – dem Wege Allāhs, dem gehört was in den Himmeln und auf Erden ist. Und gewiss enden alle Angelegenheiten bei Allāh!} (42:52-53)

Andere Verse beschreiben den geraden Weg der Rechtschaffenheit als Verwirklichung der Dienerschaft gegenüber Allāh:

{Wahrlich, Allāh ist mein Herr und euer Herr, so dient Ihm – dies ist ein gerader Weg der Rechtschaffenheit.} (3:51)

{Wer sich ganz auf Allāh verlässt, der wird zu einem geraden Weg der Rechtschaffenheit geleitet!} (3:101)

In der Sure al-An‘ām wird der Sirāt al-mustaqīm folgendermaßen beschrieben:

{Sprich: Kommt herbei, auf dass ich verkünde, was euch euer Herr ver­wehrt hat: Ihr sollt Ihm keine Partner beigesellen und die Eltern gut be­han­deln; und tötet nicht eure Kinder aus Angst vor Verarmung, denn Wir bescheren euch und ihnen doch den Lebensunterhalt; und nähert euch nicht schändlichen Taten, sowohl den offenkundigen als auch den verbor­genen; und tötet keinen Menschen, dessen Leben Allāh für unantastbar erklärt hat, es sei denn es läge ein berechtigter Grund vor. Dies hat Er euch aufgetragen, auf dass ihr es bedenken möget.

Und nähert euch nicht dem Vermögen der Waise, es sei denn in bester Weise, bis sie die Volljährigkeit erreicht hat. Und gebt volles Maß und Ge­wicht, so wie es der Gerechtigkeit entspricht. Wir erlegen keinem Men­schen mehr auf, als er tragen kann. Und wenn ihr eine Aussage macht, dann seid gerecht, auch dann, wenn es um einen Angehörigen geht. Und erfüllt den Bund mit Allāh. Dies ist, was Er euch aufgetragen hat, auf dass ihr es bedenken möget.

Dies ist Mein gerader Weg der Rechtschaffenheit, ihm sollt ihr fol­gen. Und folgt nicht anderen Wegen, damit sie euch nicht in unter­schied­liche Richtungen, hinweg von Seinem Wege führen. Dies hat Er euch auf­ge­tragen, auf dass ihr gottesfürchtig werdet.} (6:151-153)

Ein Gottesdiener ist nicht wirklich in der Lage, den Sirāt al-mustaqīm zu beschreiten, bevor er die Liebe zu Allāh [mahabbat Allāh] über seine Liebe zu allem anderen stellt. Dazu ist es unerlässlich, dass er Allāh in gebührender Weise, das heißt, im Rahmen der den Eigenschaften Seines göttlichen Wesens gegenüber angebrachten Ehrfurcht und Ehrerbietung, kennt. Aus dieser Perspektive betrachtet, besteht der gerade Weg der Rechtschaffenheit in Gotteserkenntnis [marifat Allāh]. Denn derjenige, dem Gotteserkenntnis zuteil geworden ist, richtet sein gesamtes Leben danach aus, entflieht dem Übel seines Egos und den Ränken Schaytāns und lebt in einem Zustand ausschließlichen und bedingungslosen Strebens nach dem Wohlgefallen seines allmächtigen Herrn. Das Herz eines solchen Menschen wird zu einem Schauplatz von Manifestationen [mazhar tajalliyyāt] huldvoller göttlicher Gunst [lutf al-ilāhi]. In diesem Zustand eröffnet sich dem Gottesdiener, jenseits der für die Augen sichtbaren äußeren Umgebung, ein Fenster zur Welt des Spirituellen; und er selbst wird zum Buch eines mit Weisheit und majestätischer Würde erfüllten vollendeten Universums.

Einer derer, denen Gotteserkenntnis zuteil wurde, der ehrwürdige Scheikh Abū Sa‘īd al-Kharrāz[1] – möge Allāh sein Geheimnis heiligen – sah einmal Schaytān im Traum und versuchte, ihn mit seinem Stock zu schlagen. Daraufhin sprach Schaytān:

O Abū Sa’īd, vor deinem Stock fürchte ich mich nicht! Denn dieser Stock gehört zu den materiellen Erscheinungen der äußeren Welt. Was ich indessen fürchte, sind die Strahlen der Sonne göttlichen Lichts, die von den Himmeln der Gotteserkenntnis her die Herzen erfüllen und darin alles außer Ihm [mā siwāhu] verbrennen und zunichte machen.“

Alle Bemühungen eines Suchers auf dem spirituellen Pfad [murīd] sind vergebens, wenn die rechtschaffene Beharrlichkeit [istiqāma] fehlt. Wer diese nicht erwirbt, für den sind alle Anstrengungen umsonst. Deshalb ist in der Tat die rechtschaffene Beharrlichkeit auf dem Wege Allāhs als größtes aller Wunder anzusehen.

Einer weiteren Ansicht zufolge besteht der Sirāt al-mustaqīm darin, den Weg Allāhs ohne jede Art von Über- oder Untertreibung zu verfolgen, indem man Seine Gebote exakt in der vorgeschriebenen Weise erfüllt. Das hieße zum Beispiel, sowohl Geiz als auch übergroße Freigiebigkeit, also Verschwendung, zu vermeiden.

Zur Veranschaulichung mag hierbei das Verhalten des ehrwürdigen Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – dienen, der einer Gruppe seiner Gefährten, die ein von allem Weltlichen abgeschottetes, eheloses Leben in ununterbrochenem Gottesdienst führen wollten, zur Mäßigung riet und sie dazu aufforderte, ein ausgeglichenes Leben zu führen.

Wir sollten uns dessen bewusst sein, dass der ehrwürdige Prophet – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – sein ganzes Leben entsprechend einem augenscheinlich göttlichen Plan im Rahmen allgemeiner menschlicher Möglichkeiten führte, um so als Vorbild für andere zu dienen. Wäre dies nicht der Fall, so blieben nur jene seiner Handlungen bedeutungsvoll, die sich auf sein Überbringen des Lichtes des Prophetentums beschränken, welche jedoch keine Vorbildfunktion für andere Menschen beinhalten. Doch er verbrachte seine Tage sowohl mit Gottesdienst als auch mit der Versorgung seiner Familie, mit Ausruhen, um seinem Körper sein Recht zu gewähren, sowie mit der Erfüllung der unterschiedlichen von Allāh bestimmten mitmenschlichen Verpflichtungen und gesellschaftlichen Aufgaben. All diese Handlungen arrangierte der Gesandte Allāhs – Segen und Friede seien auf ihm – in der vortrefflichsten Art und Weise und präsentierte und auferlegte sie dadurch seiner Umma.

Aus diesem Grunde wäre es falsch, sich in einer extremen Weise zu verhalten, die dem vom Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – arrangierten, vorgelebten und uns auferlegten Beispiel widerspricht, und dabei einen Teil unserer Pflichten zu vernachlässigen. Mit anderen Worten: Wir sollten ein Leben entsprechend jenen Normen, die der Gesandte Allāhs – Segen und Friede seien auf ihm – gebracht hat, führen, denn nach den Maßstäben unseres eigenen Egos leben zu wollen, wäre sicher keine sinnvolle Gestaltung unserer Lebens­führung.

Diesen wichtigen Punkt legte der ehrwürdige Scheikh ‘Abd al-Khāliq al-Ghuj­dawānī trefflich dar, als er einmal gefragt wurde:

Soll ich das tun, was mein Ego will, oder das, was es nicht möchte?“

Der ehrwürdige Meister antwortete:

Es ist äußerst schwierig, zwischen beiden zu unterscheiden! Ob ihre Wün­sche göttlichen oder teuflischen Ursprungs sind, ist für die aller­meisten Menschen unmöglich zu entscheiden. Deshalb soll man das tun, was Allāh befohlen hat und das unterlassen, was Er verboten hat. Das ist vollkommene Gottesdienerschaft!“

Allāh, der Erhabene, sagt:

{Sprich: „Dies ist mein Weg, ich rufe zu Allāh mit Einsicht – ich und die­jenigen, die mir folgen – und Lobpreis sei Allāh; und ich gehöre nicht zu den Götzendienern!} (12:108)

 

[1] Ahmad ibn ‘Īsā Abū Sa‘īd al-Kharrāz (gest. 891) war ein bedeutender früher Sufi-Meister und laut al-Hujwirī der erste, der das Konzept der Entwerdung [fanā’] und des Weiterbestehens [baqā’] darlegte. Er war ein enger Gefährte Dhu l-Nūn al-Misrīs, Bischr al-Hāfīs und Sarī al-Saqatīs und bekannt für seine hingebungsvolle Gottesliebe [‘ischq] sowie seine strikte Einhaltung des göttlichen Gesetzes [scharī‘a].