Das Geheimnis der Gottesliebe 1 - 3

Einer der Gottesfreunde berichtete: „Einmal kam ich in eine weite, unbewohnte Ebene. Dort begegnete ich einem einsamen Hirten. Ich sah, wie er, in tiefer Gottesfurcht versunken, sein Gebet verrichtete, während Wölfe seine Herde hüte­ten. Dies verwunderte mich sehr, sodass ich ihn, nachdem er sein Gebet beendet hatte, ansprach und ihn fragte:

O Hirte, wie ist es dazu gekommen, dass die Wölfe zu Freunden der Schafe geworden sind? Wie kommt es, dass sie ihr feindseliges und bestialisches Wesen aufgegeben haben und stattdessen vertrauenswürdig und liebevoll geworden sind?‘

Der rechtschaffene Hirte, dessen Angesicht hell vom Glanz der Niederwerfungen des Gebetes erstrahlte, antwortete:

O einsamer Wanderer! Du musst wissen, dass das Geheimnis, welches die Freundschaft der Wölfe mit den Scha­fen erklärt, auf der Freundschaft zu dem eigentlichen, wahren Herrn der Herde gründet. Das heißt, dass dieser Zustand eines der Geheimnisse der Liebe wider­spiegelt.‘ “

Diese Geschichte birgt in sich das Geheimnis, dass es – aus der Sicht der seelischen Entwicklung des Menschen – keine wirksamere Kraft als die Liebe gibt. Besonders wenn diese Liebe sich zu leidenschaftlicher Hingabe steigert, verbrennt ihr Licht sämtliche irdischen Wünsche und Begierden. Alle Schleier der Dunkelheit werden gelüftet und dem Herzen[1] werden endlose, erhabene Erfahrungen zuteil.

Wie in den Worten des berühmten Ausspruchs „Ich war ein verborgener Schatz; und um erkannt zu werden, erschuf Ich in Meiner Liebe diese Schöpfung.[2] zum Ausdruck kommt, ist eine der höchsten Eigenschaften dieses „verborgenen Schatzes“ Seine absolute, liebevolle Güte.

Allāh, der Schöpfer aller Dinge, hat sie allesamt als Zeichen Seiner grenzenlosen Kunstfertigkeit und Vollkommenheit erschaffen. Die Existenz des Men­schen – des Meisterwerks göttlicher Schöpferkraft – ist eine beispiellose Ma­nifestation von Liebe und Zuneigung. Der Sinn der Erschaffung dieser Welt besteht keineswegs allein darin, sie mit herrlichen, grünen Landschaften, tiefen Tälern, gewaltigen Wüsten und erhabenen Gebirgen zu schmücken: Der wahre Schöpfungsgrund der Erde und aller Kreaturen auf ihr ist der Mensch. Er ist dazu erschaffen, ein Quell der Liebe und die Quintessenz des Universums zu sein.

Die Liebe ist eine Eigenschaft, die in jedem Lebewesen als naturgegebene Anlage existiert, weil die Liebe der ursprüngliche Grund seiner Erschaffung ist. Selbst an Skorpionen lässt sie sich erkennen, wenn man beobachtet, wie ein Skorpionweibchen behutsam seine Jungen hin- und herträgt. Diese Veranlagung zur Liebe ist am stärksten im Menschen ausgeprägt, der das ehrwürdigste aller Geschöpfe ist. In dieser Welt, die voller Versuchungen und Heimsuchungen ist, erwirbt der Mensch den Lohn seiner Liebe entsprechend dem Wert dessen, auf den oder das sich seine Liebe richtet. Das bedeutet, dass das Herz des Menschen, das mit einer Fähigkeit zur grenzenlosen Liebe erschaffen wurde, nur dann Vollkommenheit erreichen kann, wenn der Mensch dieses Potential der Liebe ganz Allāh zuwendet. Andernfalls wird er unweigerlich niedere und letztendlich nutzlose Ziele verfolgen, so dass sein Leben in Enttäuschung und Unglück endet. Wenn der Mensch hingegen seine Veranlagung zu lieben Allāh und denen, die Allāh liebt, widmet, kann er sein Potential zur geistigen Entwicklung nutzen und sich im spirituellen Sinne voll entfalten.

Gleichzeitig wird der Mensch von Allāh dahingehend geprüft, ob er andere oder anderes liebt. Aus diesem Grunde hat Allāh dem Menschen neben den positiven auch negative Veranlagungen gegeben. Allāh, der Erhabene, hat den Menschen etwas von Seinen Eigenschaften der absoluten Existenz, absoluter Schönheit und absoluter Güte verliehen, sie jedoch zugleich mit deren Gegensätzen, absolutem Nicht-Sein, absoluter Hässlichkeit und absoluter Schlechtigkeit versehen. So heißt es in einem Vers des Edlen Qur’ān:

{Bei der Seele und bei Dem, der ihr ihre Gestalt verliehen und ihr dann Sündhaftigkeit und Gottesfurcht eingegeben hat…} (91:7-8)

So ist der Mensch während seines ganzen Lebens diesen gegensätzlichen Anziehungskräften unterworfen. Das Schlimmste, was einem Menschen geschehen kann, ist, dass er ganz und gar unter den Einfluss der negativen Kräfte gerät. Wenn dies geschieht, wird er mit der Blindheit der Selbstherrlichkeit und des Stolzes auf sein eigenes Tun geschlagen. Durch diesen Mangel wird er unfähig, seine menschliche Schwäche und Unvollkommenheit zu erkennen. Dieser Zustand ist eine der schlimmsten Formen von Achtlosigkeit und eine gefährliche spirituelle Krankheit, weil diese Haltung eine völlige Entfremdung des Menschen von der Erkenntnis der göttlichen Allmacht mit sich bringt.

Die wahre Bedeutung des Ausspruchs „Stirb, bevor du stirbst!“ besteht darin, sich vor falschen Haltungen und schlechten Angewohnheiten in Sicherheit zu bringen und nicht jenen negativen Kräften in die Falle zu gehen und letztlich in ihrem Strudel unterzugehen. Der ehrwürdige Maulānā Jalāl al-Dīn Rūmī sagt:

Solange sich das Wasser unter dem Schiff befindet, stellt es eine tragende Kraft dar. Wenn es jedoch das Innere des Schiffes füllt, führt es zu dessen Untergang! Das Gleiche gilt für das Feuer, welches das Schiff antreibt. Solange es den Kessel erhitzt, treibt es das Schiff an, wenn es jedoch das Schiffsdeck erfasst, geht das Schiff in Flammen auf.

Ein Gottesdiener nähert sich seinem Herrn in dem Maße, wie er den Einfluss negativer Kräfte reduziert. Die einzige Methode, dies zu erreichen, besteht darin, seine Liebe – so viel die Fähigkeit seines Herzens es ermöglicht – ganz und gar Allāh zuzuwenden. Dabei gibt es jedoch eine Reihe von Gefahren, wenn man versucht, sein Herz ganz Allāh zuzuwenden. Das Herz könnte an einem gewissen Punkt in Flammen aufgehen, als wäre es mit einer Hochspannungsleitung verbunden, sodass der Mensch dabei sein Leben lassen kann. Das In-Erscheinung-Treten Allāhs für den Propheten Mūsā – auf ihm sei der Friede – liefert hierfür ein gutes Beispiel:

Allāh, der Allmächtige, sprach am Berge Sinai zu Mūsā – auf ihm sei der Friede – mit der Eigenschaft Seines Ewigen Wortes. Dabei verlor sich Mūsā – ergriffen von der spirituellen Anziehungskraft der göttlichen Ansprache, die ihn, anders als alles Menschenwort ganz ohne Buchstaben und Worte, erreichte – vollkommen in leidenschaftlichem Verlangen und überwältigender Gottesliebe. Da begehrte er, Allāh, den Allmächtigen, zu sehen. Doch es wurde ihm geantwortet: {Du kannst Mich nicht sehen!} (7:143)

Als er dennoch auf diesem Wunsch bestand, ließ Allāh ihn wissen, er solle seinen Blick, geschützt durch einen Schleier, auf den Berg richten. Als daraufhin ein winziger Strahl vom göttlichen Licht des Herrn auf den Berg traf, zerbarst dieser. Angesichts dieses furchterregenden Ereignisses verlor Mūsā – auf ihm sei der Friede – das Bewusstsein, und als er wieder zu sich kam, bat er Allāh, den All-Verzeihenden, um Vergebung.

Wie diese, selbst das spirituelle Fassungsvermögen eines der großen Propheten übersteigende, gewaltige Manifestation des Göttlichen zeigt, verlangt also die Liebe zu Allāh ein behutsames und graduelles Vorgehen. Dabei bedarf es einiger vorbereitender Übungen, um die Fähigkeit, Allāh zu lieben, zu entwickeln. Das bedeutet, dass man sich in die spirituelle Gegenwart jener Freunde des All-Erhabenen, die sich von der Herrschaft ihres Egos befreit haben, begeben sollte, um mit ihnen die Stufen der notwendigen Übungen zu durchschreiten. Nur so kann das Herz die ihm innewohnenden Anlagen zur Liebesfähigkeit entfalten und durch Läuterung von negativen Eigenschaften befreit werden, sodass es schließlich einen Zustand erreicht, in dem es die göttliche Liebe wie ein glänzend polierter Spiegel reflektiert.

Die Liebe zu den Eltern, zum Ehemann, zur Ehefrau oder zu unseren Kindern, sowie die dem Menschen gegebenen materiellen und spirituellen Möglichkeiten und Gaben, sind allesamt Ausdruck der Gnade und Großzügigkeit Allāhs gegenüber Seinen Dienern. Doch sollten all diese verschiedenen Formen der Liebe stets als Liebe um Allāhs willen und als Mittel auf dem Wege zu Allāh betrachtet werden. Wir dürfen nicht zulassen, dass unsere Herzen zu Gefangenen der Liebe zu Menschen oder Materie werden, denn die wahre leidenschaftliche Liebe zur absoluten Schönheit Allāhs duldet neben sich keine Liebe zu unvollkommenem Stückwerk. Wer sein Herz an Bruchstücke verliert, dem bleibt das vollkommene Ganze auf Dauer verwehrt. Das heißt, wer sein Herz an diese Welt verschwendet, wird keine Gottesliebe erfahren können. Der ehrwürdige Meister Jalāl al-Dīn Rūmī bringt diesen Sachverhalt in den folgenden Versen trefflich zum Ausdruck, wenn er sagt:

Diejenigen, die ihr Herz an diese Welt verschenken, gleichen einem Jäger, der einem Schatten nachjagt. Wie kann er einen Schatten fangen?

Einer von jenen, die keinen Verstand besitzen, hielt den Schatten des Vogels für den Vogel selbst und mühte sich, ihn zu fangen. Und selbst der Vogel auf dem Ast wunderte sich, was jener da vollführte.

Jeder mit Verstand begabte, der über sein Ende nachdenkt, wird leicht begreifen, dass es notwendigerweise zum Sinn der Schöpfung gehört, dass man sein Streben nach Genüssen und Vergnügungen, sowie die Liebe zu weltlichen Dingen, einschränken und seine Liebe dem Allmächtigen zuwenden muss.

Die absolute Schönheit ist die Schönheit Allāhs – alle anderen Formen von Schönheit, die wir erfahren dürfen, sind nichts weiter als ein Abglanz Seiner göttlichen Schönheit.

Ein wunderbares Beispiel dafür ist die Liebe zwischen Layla und Majnūn. Hätte sich Majnūns Herz ganz und gar auf Layla fixiert, wäre sie für ihn zu einem Götzen geworden. Doch die Liebe zu Layla spielte für Majnūn nur eine vorübergehende Rolle. Nachdem Majnūns Herz eine Stufe der Liebe erreicht hatte, die ihm ermöglichte, Gottesliebe zu empfinden, verlor seine Beziehung zu Layla in seinen Augen an Bedeutung. Auch wenn er zu Beginn seines Weges vollkommen auf Layla fixiert war, gelang es ihm schließlich doch, sein Herz ganz seinem erhabenen Herrn zuzuwenden.

 

[1] Im Islam ist das (spirituelle, nicht das physische) Herz das Organ der Wahrnehmung spirituellen und metaphysischen Wissens. In Bezug auf eine der bedeutendsten Visionen des Propheten – Segen und Friede seien auf ihm – sagt Allāh: {Das Herz log nicht, in dem was es sah!} (53:11). Und an anderer Stelle im heiligen Qur’ān heißt es: {Denn wahrlich, es sind nicht die Augen, die blind sind, sondern die Herzen in der Brust sind blind!} (22:46; siehe auch 2:9-10; 2:74; 8:24; 26:88-89; 48:4; 83:14. Insgesamt wird das Herz mit seinen Synonymen im Qur’ān über hundert Mal erwähnt).

[2] Ismā‘īl Hakki Bursevī in Kenz-i Mahfī.