Al-Ikhlās – Vollkommene Aufrichtigkeit gegenüber Allāh

Aufrichtigkeit bedeutet, sein Herz bei der Erfüllung seiner Pflichten gegenüber Allāh von allen Gedanken an weltliche Angelegenheiten frei zu halten. Die Frucht der Aufrichtigkeit [al-ikhlās] ist die Stufe der Vortrefflichkeit [al-ihsān], das heißt, Allāh so zu dienen, als sähe man Ihn, und in dem Bewusstsein zu leben, dass Allāh uns und all unser Tun zu jeder Zeit sieht.

Imām al-Quschayrī überliefert die folgende Begebenheit:

Einer der Rechtschaffenen sah ‘Amr ibn Layth, den edlen und heldenhaften Befehlshaber der Muslime in Khorasān, im Traum und fragte ihn:

Was hat Allāh mit dir getan?“

‘Amr antwortete:

Er hat mir all meine Sünden vergeben.“

Der Rechtschaffene fragte:

Aus welchem Grund hat Er dir vergeben? Was hast du in deinem Leben getan, dass dir solch großzügige Vergebung zuteil geworden ist?“

‘Amr erwiderte:

Eines Tages war ich hoch auf einen Hügel geklettert und hatte auf mein Heer hinabgeschaut. Während ich auf seine gewaltige Stärke und die große Zahl der Soldaten hinunterblickte, sprach ich zu mir selbst: ‚Ich wünschte, ich hätte mit diesem gut ausgebildeten Heer Allāhs Gesand­tem – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – in seinen Kämpfen treu zur Seite stehen und ihn in seinen schwersten Stunden unterstützen können. Für diese Ehre wäre ich bereit, mein Leben hinzugeben!‘ Wegen dieser aufrichtigen Empfindungen vergab mir Allāh, der Allmächtige, und belohnte mich mit endlosen Gnadengaben.“

Diese Begebenheit ist ein treffliches Beispiel dafür, welch große Bedeutung Aufrichtigkeit und Ehrenhaftigkeit für den Gläubigen besitzen. Infolge des Segens seiner Aufrichtigkeit wurde dieser Gottesdiener aus göttlicher Gnade großzügig für eine Handlung belohnt, die er gar nicht ausgeführt hatte und auch nicht hätte ausführen können, nur weil er aufrichtig von ganzem Herzen gewünscht hatte, sie zu tun. Der ehrwürdige Gesandte Allāhs – Segen und Friede seien auf ihm – sagte hierzu:

Die Absicht eines Gläubigen ist vortrefflicher als seine Handlungen.“[1]

Denn die Absicht ist eine Handlung des Herzens. Demnach entspringt der Wert einer Handlung ­– aus der Sichtweise des Islam – der ihr zugrunde liegenden Absicht. So kann de facto eine gute Tat, der keine gute Absicht zugrunde liegt, nicht wirklich als gute Tat gelten. Handlungen sind stets entsprechend den ihnen zugrunde liegenden Absichten zu beurteilen, so wie es in dem berühmten Hadīth zum Ausdruck kommt:

Wahrlich, die Taten entsprechen ihren Absichten, und einem jeden wird zuteil werden, was er beabsichtigt hat! […]“[2]

Deshalb sollten wir bei jeder Art von Gottesdienst auf unsere Absicht achten und allen Handlungen das reine Streben nach dem göttlichen Wohlgefallen zugrunde legen. Dazu bedarf es jener Form von vollkommener Aufrichtigkeit [al-ikh­lās], die darin besteht, alle Handlungen nur um Allāhs willen zu verrichten, ohne dabei in die finsteren Abgründe selbstsüchtiger Wünsche hinabzustürzen. So wie der Körper der Seele bedarf, benötigt jede Handlung die rechte Absicht! Und wenn die Seele krank ist, wird auch der Körper krank. Handlungen, die ohne Aufrichtigkeit verrichtet werden, bringen keinerlei Nutzen sondern führen nur zu Ermüdung und Kraftlosigkeit, wie in der folgenden Geschichte:

Ein Derwisch, der auf dem Pfad zur geistigen Vervollkommnung war, ver­brachte einmal die Nacht in der Moschee im Gebet. Da fing es an zu regnen. In diesem Moment spürte der Derwisch, wie sich sein Herz danach sehnte, nach Hause zu gehen. Da hörte er plötzlich aus der Ecke der Moschee eine Stimme, die sprach:

O Derwisch, mit einem solchen Gebet kannst Du in Unserer Gegen­wart nicht das Geringste erreichen, denn das Edle (dein Herz), das dir inne­wohnt, hast du nach Hause geschickt und das Üble (dein Ego) hast du hier gelassen.“

Diese Geschichte lehrt uns, dass all unsere Handlungen nur dann angenommen werden, wenn sie mit der Absicht, Allāh voller Aufrichtigkeit zu dienen, und mit hohem Streben nach Seinem Wohlgefallen ausgeführt werden.

In vielen seiner Eigenschaften gleicht der Mensch den anderen Geschöpfen, doch er unterscheidet sich von ihnen dadurch, dass er die Fähigkeit besitzt, sich durch sein Handeln aus den Niederungen der Herrschaft seines selbstsüchtigen Egos und seiner tierischen Instinkte zu befreien. Allein der Mensch ist fähig, seine Begierden zu kontrollieren und so seine gottgegebenen natürlichen Bedürfnisse zu zügeln und zu beherrschen. Wenn ihm dies gelingt, vollführt er all seine weltlichen Tätigkeiten in Übereinstimmung mit dem göttlichen Willen. Alles wird für ihn mit Spiritualität erfüllt und zu einer Form von Gottesdienst. Sein Schlafen, Essen, Trinken, das Zeugen von Kindern, der Erwerb von Besitz und all die zahllosen anderen Arten alltäglicher menschlicher Beschäftigungen werden ihm dann zu Mitteln, Allāhs göttliches Wohlgefallen zu erlangen, und zählen auf diese Weise in der Gegenwart Allāhs, des Allmächtigen, als Gottesdienst und gute Taten.

Aus diesem Grunde sollte ein Gläubiger sein Herz von allen selbstsüchtigen Absichten läutern und nur die Absicht, Allāhs Wohlgefallen zu erlangen, darin wirken lassen. Dies zu verwirklichen, ist das wahre Heldentum eines Muslims. Die definitiv wichtigste Voraussetzung für die Anerkennung aller Handlungen bei Allāh jedoch ist die Aufrichtigkeit. Sie ist das Mittel, mit dem der Mensch auf dem Weg zur Gottesnähe sein Herz vor jeder Art von weltlichem Streben bewahren kann. Die Frucht der Aufrichtigkeit jedoch ist, wie bereits erwähnt, die Stufe der Vortrefflichkeit [al-ihsān], die darin besteht, Allāh so zu dienen, als sähe man Ihn, und sich innerlich ganz und gar bewusst zu sein, dass Allāh ständig auf uns und all unser Tun schaut. Die Aufrichtigkeit lässt den Gottesdienern das unvergleichlich kostbare Gut göttlichen Wohlgefallens zuteil werden. Wahre Aufrichtigkeit der Geschöpfe besteht darin, sich bei allen Handlungen Allāh zuzuwenden und damit Sein Wohlgefallen zu erstreben. In den Versen des Edlen Qur’ān heißt es:

{Wahrlich, Wir haben dir das Buch mit der Wahrheit herabgesandt, so diene Allāh, aufrichtig Ihm gegenüber in der Religion!} (39:2)

{Sprich: „Wahrlich, mir wurde geboten, Allāh zu dienen, aufrichtig Ihm gegenüber in der Religion!“} (39:11)

Als Iblīs aus der göttlichen Gegenwart verbannt wurde, sagte er:

{„Herr, da Du mich hast irre gehen lassen, werde ich ihnen auf der Erde (das Üble) verlockend schön erscheinen lassen und sie allesamt in die Irre führen – mit Ausnahme derjenigen von ihnen, die Deine aufrichtigen Diener sind!“} (15:39-40)

Wie letzterer Vers deutlich macht, kann Schaytān über diejenigen, die wahrhaft aufrichtig sind, keine Macht ausüben. Die aufrichtigen Gottesdiener kann er niemals beeinflussen, wie auch in der Antwort Allāhs auf die obige Ankündigung Schaytāns deutlich wird:

{Er sprach: „Dies ist ein für Mich verbindlicher gerader Weg: Wahrlich, du sollst keine Macht über sie haben, außer über diejenigen Irrege­lei­teten, die dir folgen!} (15:41-42)

Und an anderer Stelle im Qur’ān bekräftigt Allāh, der Erhabene, diese Aussage, indem Er sagt:

{Wahrlich, über Meine Diener wirst du keine Macht haben! Und dein Herr ist (ihnen) als Beschützer genüge.} (17:65)

In einem Hadīth qudsī sagt Allāh, der Allmächtige:

Die Aufrichtigkeit ist ein Geheimnis von Meinen Geheimnissen, welches Ich dem Herzen eines Meiner Diener anvertraue, wenn Ich ihn liebe: Weder kann ein Engel sie aufzeichnen, noch ein Schaytān sie zunichte machen.“[3]

Angesichts dieses Hadīth qudsī wird deutlich, wie die Aufrichtigkeit den Gottesdienern, indem sie sie zur Stufe der Vortrefflichkeit führt, die Liebe Allāhs beschert. Darauf deuten die Worte Allāhs hin, wenn Er von dem „Herzen eines Meiner Diener, wenn Ich ihn liebe“ spricht. In der Tat verleiht nur die ganz auf Allāh ausgerichtete Liebe der menschlichen Seele den ihr gebührenden Rang. Die Arten von Liebe jedoch, die jener Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit Allāh gegenüber entbehren, führen in der Ewigkeit nur zu Einbußen und blei­bendem Verlust. Diesen besonderen Zusammenhang beschreibt der ehr­würdige Meister al-Nakhschabī in folgender Geschichte:

Ein Jüngling kam ans Tor der Sultanstochter und verkündete seine Liebe zu ihr. Als der Sultanstocher die Nachricht überbracht wurde, schritt die Ehefrau des Sultans zum Tor und sprach zu dem Jüngling:

Nimm diese tausend Dirham, und sprich nie mehr solche, für dich höchst gefährliche, gewagte Worte aus!“

Als der Jüngling sich weigerte wegzugehen, sagte sie:

Wenn das so ist, dann gebe ich dir eben zweitausend Dirham!“

Auf diese Weise bot sie ihm immer mehr, bis er schließlich bei einer Summe von zehntausend Dirham einwilligte. Als die Sultanstochter dies hörte, lief sie herbei und schrie ihn an:

Wie kommst du dazu, zu behaupten, dass du mich liebst, wenn du mich bereits bei dem Anblick von ein paar Münzen vergisst? Weißt du nicht, welche Strafe dem droht, der etwas anderem den Vorzug vor mir gibt?“

Mit diesen Worten schlug sie dem in seiner Liebe zu ihr unaufrichtigen Jüngling den Kopf ab.

Als einer derer, die in der Erkenntnis Allāhs leben, diese Geschichte hörte, stürzte er bewusstlos zu Boden. Als er wieder zu sich kam, sagte er:

O ihr Menschen, seht nur, was in dieser Welt mit jenen geschieht, deren Liebe unaufrichtig ist! Welches Schicksal wird erst im Jenseits diejenigen ereilen, die behaupten, Allāh zu lieben und dabei in Wirklichkeit nach an­deren Dingen streben? […]“

Der ehrwürdige Meister Jalāl al-Dīn Rūmī kommentiert diese Geschichte treffend mit den Worten:

Der Wert eines Menschen bemisst sich daran, wonach er strebt.

Die Aufrichtigkeit ist für alle Handlungen von entscheidender Bedeutung. Durch sie wird ihr Besitzer errettet, wie es in einer edlen Überlieferung heißt:

Die Menschen sind (wie) Tote, außer denen, die Wissen besitzen, und die Wissenden sind ruiniert, außer denen, die rechtschaffene Werke tun, und die rechtschaffen Handelnden sind verderbt, außer denjenigen, die auf­richtig sind!“[4]

Im heiligen Qur’ān kommt dies in den folgenden Worten zum Ausdruck:

{Ihr werdet gewiss die qualvolle Strafe zu schmecken bekommen – und euch wird nur das vergolten werden, was ihr selbst getan habt – außer Allāhs aufrichtigen Dienern. Ihnen wird eine festgelegte Versorgung zu­teil werden: (vielerlei) Früchte; und ihnen wird große Ehre erwiesen werden.} (37:38-42)

Und Allāh sagt:

{O ihr, die ihr glaubt, wacht über euch selbst. Kein Irregeleiteter kann euch schaden, wenn ihr rechtgeleitet seid. Zu Allāh ist eure Heimkehr allesamt und Er wird euch dann kundtun, was ihr vollbracht habt.} (5:105)

Mit der Aufrichtigkeit, die sich in reinen und wahrhaftigen Absichten ausdrückt, gehen die Gültigkeit und der Segen des Gottesdienstes einher. Maulānā Jalāl al-Dīn Rūmī sagt demjenigen, der bei seinem Gottesdienst diese wichtige Voraussetzung vernachlässigt:

O du Achtloser! Würdest du doch nur in der Sajda[5] dein Gesicht in wah­rer Aufrichtigkeit dem Allmächtigen zuwenden, dann könntest du die Be­deu­tung deiner Worte ‚Lobpreis sei dem Allerhöchsten, meinem über jeg­li­che Unzulänglichkeit erhabenen Herrn!‘ begreifen, und deine Sajda bli­ebe nicht länger eine rein äußerliche Körperhaltung, sondern würde zu einer demütigen Niederwerfung deines Innersten!

Ein Gottesdienst, der der Aufrichtigkeit entbehrt, beinhaltet immer eine Art von Götzenanbetung und eine Vermischung mit unreinen Elementen. Das Geheimnis, aufgrund dessen die gottesdienstlichen Handlungen von der niederen Ebene in die höchsten Gefilde erhoben werden, liegt unsichtbar verborgen in der Aufrichtigkeit. Wenn diese fehlt, trifft das zu, was in einem Vers des Edlen Qur’ān so beschrieben wird:

{Doch wehe jenen Betenden, die während ihrer Gebete geistesabwesend sind, die nur gesehen werden wollen[...]} (107:4-6)

Die Aufrichtigkeit bewahrt das Herz davor, nach etwas anderem als Allāh und Seinem Wohlgefallen zu streben. Nur der auf dieses hehre Ziel ausgerichtete Gottesdienst verdient die Bezeichnung „rechtschaffene Werke“ [‘amal sālih]! Allāh, der Erhabene, sagt:

{Und wahrlich findet ihr im Weidevieh ein Gleichnis: Wir geben euch von dem, was sich in ihren Leibern zwischen Ausscheidungen und Blut befindet, reine Milch zu trinken, angenehm und bekömmlich für die Trinkenden!} (16:66)

Manche Kommentatoren haben aus diesem Vers die Bedeutung abgeleitet, dass genau so, wie die Milch von Ausscheidungen und Blut getrennt wird, die Auf­richtigkeit die Handlungen in ebensolcher Weise von allen Trübungen befreit. So, wie die Milch, obwohl sie zwischen den Blutgefäßen und den unreinen Ausscheidungen herausfließt, vollkommen rein ist, sind auch Handlungen, die mit reiner Absicht für Allāhs Wohlgefallen verrichtet werden, frei von jeglicher Verunreinigung. Eben dies brachte auch Imām Junayd al-Baghdādī zum Ausdruck, als er sagte:

Die Aufrichtigkeit reinigt die Handlungen von allen Trübungen!“

Und ein anderer Gottesfreund sagte:

Für sich selbst einen Anspruch auf Aufrichtigkeit zu erheben ist eine Form von Unaufrichtigkeit!“

Mūsā – auf ihm sei Friede – wählte auf Allāhs Geheiß hin aus seinem Volk siebzig Rechtschaffene aus. Dann befahl er, die Rechtschaffensten von ihnen sollten vortreten, woraufhin er die drei, die zuerst vortraten, auswählte. Daraufhin sprach Allāh, der Erhabene: „O Mūsā, diese drei sind von allen Geschöpfen diejenigen, die von Mir am weitesten entfernt sind, denn als gesagt wurde: ‚Die Rechtschaffenen sollen vortreten!‘, haben sie sich selbst zu Rechtschaffenen er­klärt.“

‘Īsā – auf ihm sei Friede – wurde einmal von seinen Jüngern gefragt was „rechtschaffene Werke“ seien. Er antwortete: „Die Taten desjenigen, der nur um Allāhs Wohlgefallen willen handelt und darüber hinaus keine anderen Ziele verfolgt, sind rechtschaffene Werke.

Dementsprechend besteht Aufrichtigkeit darin, seine Taten von Anbeginn an von Zurschaustellung und allen anderen Formen spiritueller Verunreinigung frei zu halten. In der Tat stellt die Augendienerei, welche die Aufrichtigkeit trübt und zunichte macht, eine enorme Gefahr für den Menschen dar. Denn wer seine Handlungen mit Zurschaustellung verbindet, verfällt damit in verborgenen Götzendienst und zieht sich den Zorn und die Strafe Allāhs zu. In einer prophetischen Überlieferung wird Folgendes berichtet:

Der Erste, über dessen Schicksal am Tag des Jüngsten Gerichts entschie­den wird, ist ein Mann, der als Märtyrer gestorben ist. Er wird herbei­ge­holt werden und Allāh wird ihn auffordern, Seine Gnadengaben aufzu­zählen und er wird sie aufzählen. Dann wird Allāh sprechen: „Was hast du getan?“, und der Mann wird sagen: „Ich habe um Deinetwillen gekämpft, bis ich als Märtyrer gefallen bin.“ Allāh jedoch wird ihm entgegnen: „Du lügst! Du hast gekämpft, damit man dich als heldenhaften Kämpfer bezeichnet, und genau so haben sie dich genannt.“ Daraufhin wird der Richtspruch über ihn gefällt und er wird mit dem Gesicht nach unten hin­weggeschleift und ins Höllenfeuer geworfen werden.

Als nächster wird ein Mann vorgeführt werden, der Wissen erworben, andere gelehrt und den Qur’ān rezitiert hat. Er wird herbeigeholt werden und Allāh wird ihn auffordern, Seine Gnadengaben aufzuzählen und er wird sie aufzählen. Dann wird Allāh sprechen: „Was hast du getan?“, und der Mann wird sagen: „Ich habe um Deinetwillen Wissen erworben, es andere gelehrt und den Qur’ān rezitiert.“ Doch Allāh wird ihm entgegnen: „Du lügst! Du hast Wissen erworben, um als Gelehrter bezeichnet zu werden, und du hast den Qur’ān rezitiert, damit man dich als hervor­ra­gen­den Qur’ānrezitator bezeichnet, und genau das haben sie über dich ge­sagt.“ Daraufhin wird der Richtspruch über ihn gefällt und er wird mit dem Gesicht nach unten hinweggeschleift und ins Höllenfeuer geworfen werden.

Dann wird ein Mann vorgeführt werden, dem Allāh gewaltigen Reich­tum und jede Art von Wohlstand verliehen hatte. Er wird herbeigeholt werden und Allāh wird ihn auffordern, Seine Gnadengaben aufzuzählen und er wird sie aufzählen. Dann wird Allāh sprechen: „Was hast du getan?“, und der Mann wird sagen: „Ich habe meinen Besitz um Deinet­willen in jeder denkbaren Dir wohlgefälligen Weise ausgegeben.“ Doch Allāh wird ihm entgegnen: „Du lügst! Du hast dies nur getan, damit über dich gesagt wird: ‚Er ist ein freigiebiger Mann!‘, und genau das haben sie über dich gesagt.“ Daraufhin wird der Richtspruch über ihn gefällt und er wird mit dem Gesicht nach unten hinweggeschleift und ins Höllenfeuer geworfen werden.[6]

Wie dieses Hadīth uns deutlich lehrt, sind selbst die an sich vortrefflichsten rechtschaffenen Taten, wie das Hingeben des eigenen Lebens für Allāh, der Erwerb und die Vermittlung von Wissen, das Rezitieren des heiligen Qur’ān, sowie freigiebige Spenden, nutzlos, wenn sie nicht aufrichtig und ausschließlich um Allāhs Wohlgefallen zu erlangen, ausgeführt werden.

Als Abū Yazīd al-Bistāmī einmal den Vers aus dem Edlen Qur’ān {Einige von euch verlangen nach dieser Welt und andere von euch verlangen nach dem Jenseits} (2:152) hörte, begann er zu weinen und sagte: „Mit dieser Äußerung wirft Allāh Seinen Dienern ihre Ungerechtigkeit vor, indem Er ihnen vorhält: ‚Manche von euch sind mit dem Diesseits zufrieden und manche streben nach dem Jenseits, doch wo sind diejenigen, die Mich wollen?‘

Glaube besteht nicht nur aus leeren Worten oder seelenlosem Verrichten von Gottesdienst, sondern er muss sich im Handeln der Gläubigen manifestieren. Ein Gläubiger gehorcht den Geboten und Verboten Allāhs von ganzem Herzen, ohne sich je zu beklagen. Allāh ist ihm wichtiger als alles andere. Wer hingegen weltliche Vorteile Allāh vorzieht, zählt zu den Heuchlern. Sie versuchen, die Gläubigen zu täuschen und den Islam als Deckmantel für ihre Übeltaten zu benutzen. Diese Art von Menschen betrachten ihr eigenes Ego als höchsten Herrn und oberste Gottheit. Über sie sagt Allāh im heiligen Qur’ān:

{Hast du den gesehen, der sich seine eigenen Gelüste zur Gottheit genom­men hat, und den Allāh wissentlich in die Irre gehen lässt, und dem Er Gehör und Herz versiegelt und einen Schleier über die Augen gebreitet hat? Wer könnte ihn noch rechtleiten nach Allāh? Wollt ihr euch denn nicht ermahnen lassen?} (45:23)

Dieser Vers lehrt uns, wie unerlässlich es ist, sich von den eitlen Wünschen des Egos zu befreien, wenn man die ehrliche Absicht hegt, Allāh in aufrichtigem Glauben zu dienen.

Dabei ist ein Weniges an Gottesdienst in Aufrichtigkeit verrichtet oft besser als viele Gottesdienste ohne Aufrichtigkeit und rechtschaffene Absicht. Es wird berichtet, Allāhs Gesandter – Segen und Friede Allāhs seien auf ihm – habe gesagt:

Verrichtet euren Gottesdienst in Aufrichtigkeit, dann werden euch eine geringe Zahl guter Taten genügen!“[7]

Und er sagte – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden:

Allāh schaut nicht auf euer Äußeres und auf euren Besitz, sondern auf eure Herzen und auf eure Taten!“[8]

Ebenso teilt uns Allāh, der All-Erhabene, mit, dass Er nicht den am meisten liebt, der den meisten Gottesdienst verrichtet, sondern vielmehr denjenigen, der in seinem Gottesdienst am aufrichtigsten ist. Dabei prüft Er die Menschen, um ihre Aufrichtigkeit in Erfahrung zu bringen. Allāh sagt:

{Er erschuf den Tod und das Leben, damit Er euch prüfe, wer von euch in seinem Handeln der Beste ist; und Er ist der All-Gewaltige, der All-Verzeihende.} (67:2)

Allāh, der Allmächtige, unterwirft die Menschen hinsichtlich der Qualität ihres Handelns, das heißt, um den Grad ihrer Aufrichtigkeit zu ergründen und festzuschreiben, unterschiedlichen Prüfungen. Dazu gehört auch, dass manche Gläubige durch das Erdulden von Verfolgung, Unterdrückung oder Folter ihre Glaubensstärke und Loyalität Allāh gegenüber beweisen müssen. Allāh sagt darüber im heiligen Qur’ān:

{Alif. Lām. Mīm. Rechnen die Menschen etwa damit, sie würden in Ruhe gelassen, wenn sie nur sagen: „Wir glauben“? Und Wir haben schon diejenigen geprüft, die vor ihnen waren! So wird Allāh gewiss kenntlich machen, wer die Wahrhaftigen und wer die Lügner sind.} (29:1-3)

Es ist sehr wichtig, Wesen und Bedeutung der Aufrichtigkeit richtig zu erfassen. Wenn manche Menschen es unterlassen, aufrichtig rechtschaffene Werke zu tun, nur weil sie befürchten, in heuchlerische Zurschaustellung zu verfallen, ist das sicherlich falsch. Wenn wir das Gefühl haben, dass sich solch unerwünschte Charakterzüge in unser Handeln einschleichen, sollten wir uns die Mühe machen, unsere Absichten zu hinterfragen und gegebenenfalls zu korrigieren, anstatt das Verrichten rechtschaffener Werke aufzugeben. Der Weg zur Aufrichtigkeit ist sicherlich kein leichter; ganz im Gegenteil: Er ist mit vielen Schwierigkeiten und Prüfungen gepflastert. Denn er verlangt von uns, unser Ego und seine unzähligen Wünsche und Begierden zu konfrontieren, bevor wir, Schritt für Schritt, seine Höhen erklimmen. Wir müssen dabei sowohl unsere ganze Willenskraft einsetzen, als auch um göttliche Unterstützung bitten. Dabei sollten wir die folgenden fünf Punkte beachten:

1. Durch stetes Gottesgedenken und die Wiederholung Seiner göttli­chen Namen müssen wir uns bemühen, ständig in der Gegenwart Allāhs, des Allmächtigen, zu leben.

2. Wir müssen eine spirituelle Verbindung mit dem Propheten – Allāh segne ihn und schenke ihm Frieden – und denen, die seinen Fußstapfen folgen, halten. Durch diese spirituelle Verbindung müs­sen wir versuchen, an dem Fließen der Ausschüttungen göttlicher Gnade [fayd] teilzuhaben.

3. Wir müssen regelmäßig an spirituellen Zusammenkünften [suhba] teilnehmen, und bemüht sein, darin die Süße der islamischen Brü­derlichkeit zu erfahren. Dazu gehören auch die aufopferungs­volle Hingabe und der Dienst zum Nutzen unserer Geschwister im Glau­ben.

4. Wir sollten die gesamte Schöpfung und alle Menschen aus Liebe zu Allāh, dem Erhabenen, lieben und ihnen in jeder uns möglichen Art und Weise dienen.

5. Wir sollten unseren, uns von Allāh anvertrauten Körper nur von dem ernähren, was auf rechtmäßige Weise [halāl] erworben ist, denn dann fällt unserem Herzen der Gehorsam gegenüber Allāh leicht und unser Körper wird zu einem Quell des Guten. Wenn un­se­re Nahrung hingegen aus unzulässigen Quellen [harām] kommt, kann das Herz keine Neigung zu aufrichtigem Gottesdienst ent­falten.

Durch diese Praktiken des Gottesgedenkens [dhikr], der spirituellen Verbindung [rābita], der Zusammenkunft [suhba], des Dienstes [khidma] und der Ernährung mit dem, was rechtmäßig ist, kann der Mensch mit Hilfe der göttlichen Barmherzigkeit die Schönheit des Glaubens in seinem Herzen verwirklichen und zu der selten gewordenen Tugend wahrer Aufrichtigkeit in seinem Tun gelangen.

O unser Herr! Lass uns die wahre Aufrichtigkeit, die ein Geheimnis Deiner endlosen Geheimnisse ist, zuteil werden, auf dass wir Dir in Dankbarkeit für Deine unendlichen Gnaden in rechter Weise dienen!

Āmīn!

 

[1] Al-Suyūtī, Al-Jāmi‘ al-Saghīr, Bd. II, 194.

[2] Sahīh al-Bukhārī, Kitāb al-Īmān, 41; Sahīh Muslim, Kitāb al-Imāra, 155.

[3] Vom Autor zitiert aus Seyyid Mansur Ali Nasıf El-Hüseyni, Eş-Şafis Et-Tacü’l Camiu Li’l Usul Fi Ehadisi’r-Resul, Terc. Bekir Sadak, İstanbul, Fecir Neşriyat, 1980, Bd. I, S.43.

[4] Überliefert von al-Bayhaqī in Schu‘ab al-Īmān als Ausspruch des Dhū Nūn al-Misrī sowie von Imām Ghazālī in Ihyā ‘Ulūm al-Dīn als Ausspruch des Sahl al-Tustarī.

[5] Sajda nennt man die Niederwerfung im rituellen Gebet.

[6] Sahīh Muslim, Kitāb al-Imāra, 152

[7] Imām al-Ghazālī, Ihyā ‘Ulūm al-Dīn, Bd. IV.

[8] Überliefert in Sahīh Muslim, Kitāb al-Īmān, 34.